Mehr als nur ein Zeuge
Ich habe fast den Eindruck, sie hat noch nie darüber nachgedacht. »Am Anfang habe ich mich nur gekratzt. Eines Tages hat das nicht mehr gereicht, da habe ich meinen Kamm genommen. Es hat sich gut angefühlt und ich habe mir auch gern die roten Striemen angeschaut. Aber es hat nie lange vorgehalten. Als ich mich dann in Kunst mal beim Linolschnitt aus Versehen geschnitten habe, wusste ich, wonach ich gesucht hatte.«
»Trotzdem verstehe ich nicht, was dich dazu treibt.«
Sie zuckt wieder die Achseln. »Alles Mögliche. Manchmal habe ich Angst oder ich bin wütend oder ich mache mir wegen irgendwas Sorgen. Manchmal komme ich mir irgendwie unsichtbar vor, als wäre ich gar nicht … nicht so
echt
wie andere Menschen. Aber wenn ich mich ritze und das Blut sehe und den Schmerz spüre, weiß |215| ich wieder, dass ich da bin. Dann kann ich mich selbst besser spüren. Kannst du das verstehen? Wahrscheinlich nicht.«
Komischerweise schon. Ich hätte fast Lust, es selbst zu probieren.
»Aber du bist nicht unsichtbar … du versteckst dich bloß. Genau, du bist immer so still und du trägst diese langen Schlabbersachen und du hast immer die Haare vor dem Gesicht. Sogar deine Schuluniform ist dir zu groß.« Mir fällt etwas ein. »Warum versteckst du dich andauernd? Hör auf damit, und hör damit auf, dir so was anzutun. Und jetzt zeig mal.«
Ihr Gesicht kriegt wieder diese hektischen roten Flecken, und mir wird klar, dass ich mich missverständlich ausgedrückt habe. »Du sollst dich ja nicht … ich meine, ähm, zieh einfach ein kurzärmliges T-Shirt an oder so. Ich gucke auch nicht.«
Aber sie knöpft die oberen Knöpfe ihres Hemdes auf, das schwarz ist und ungefähr fünf Nummern zu groß. »Nein, ist okay …« Schon zieht sie es sich über den Kopf.
Jetzt sitzt sie in Jeans und ihrem kleinen weißen BH vor mir, aber ich sehe nur ihre Arme an. Ihre misshandelten dünnen Arme. Sie sind zerkratzt, verpflastert und vernarbt, und das neue Pflaster hat auch schon Blutflecken. Zwischen den Wunden, den alten und den neuen, hat sie eine Gänsehaut. Die Schnitte sind wie Eisenbahnschwellen in einer säuberlichen Reihe angeordnet. Die ältesten Narben sind schon ganz verblasst, die neueren |216| sind rosa und glänzen. Am traurigsten macht mich, wie ordentlich das Ganze aussieht: Obwohl sie sich schneidet, bis Blut kommt, will sie immer noch brav und ordentlich sein.
Ich muss an die Morgenversammlung in meiner alten Schule denken, an das Kruzifix, an dem unser Herr hängt, blutend und leidend. Nicht, dass ich religiös wäre, aber Gran hat mich früher manchmal mit in die Kirche genommen, und Mum und ich mussten ein ganzes Jahr lang hingehen, damit ich auf die St. Saviours wechseln durfte. Durch diese katholischen Kirchen habe ich eine gewisse Vorstellung davon gekriegt, dass Schmerz irgendwie nicht nur Schmerz ist, er hat eine übernatürliche Macht und Bedeutung.
Wie konnte ich die Vorstellung, dass sie sich selbst verletzt, bloß so aufregend finden? Ich widere mich selbst an.
Sie muss mir etwas angesehen haben und denkt offenbar, dass
sie
mich anwidert. Jetzt weint sie still und versucht, ihre Arme zu bedecken. Ich nehme ganz vorsichtig ihre Hand. »Ist schon gut, du brauchst nicht zu weinen. Schau dir deine Arme an. Sieh dir an, was du dir selber angetan hast. Was für Schmerzen du dir zugefügt hast. Du brauchst deine Arme nicht vor mir zu verstecken.«
So bleiben wir eine Weile sitzen, Hand in Hand im Beinahedunkeln. Draußen im Garten hört man die Leute lachen und reden. Dann sagt Claire: »Du verrätst aber niemandem was!«
|217| »Das hab ich dir doch schon versprochen. Trotzdem finde ich,
du
solltest es jemandem sagen. Bestimmt kann dir jemand helfen. Weißt du, es gibt schon genug fiese Menschen auf der Welt, die einem wehtun können, da brauchst du dir nicht auch noch selber wehzutun.«
»Kann sein.«
»Ist so.«
Sie lehnt den Kopf an meine Schulter und ich streiche ihr das lange Haar aus dem Gesicht. »Du kannst dich nicht immer und ewig verstecken, wenn Verstecken auf das hier hinausläuft«, sage ich – zu wem eigentlich? Zu ihr oder zu mir selbst?
»Jetzt erzähl du mir deine Geschichte«, wechselt sie das Thema. »Erzähl mir, wieso deine Augen die Farbe ändern.«
»Claire …« Ich bin unschlüssig. Ich vertraue ihr schon, aber was ist, wenn sie jemand unter Druck setzt?
»Ich höre.«
»Was ich dir jetzt erzähle, muss unbedingt unter uns bleiben. Du darfst es weder
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