Mehr als nur ein Zeuge
Gran … sie wurde zusammengeschlagen, weil die Typen rauskriegen wollten, wo ich stecke. Dabei wusste Gran das gar nicht. Sie liegt auf der Intensivstation. Meine Mum ist bei ihr, aber ich weiß nicht mal, ob ich sie irgendwann wiedersehe.«
|221| »Das ist ja schrecklich. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Ich komme mir vor wie ein Weichei, weil ich mich so anstelle, dabei hast du richtige Probleme.«
»Ach Quatsch, du hast genauso richtige Probleme.« Ich fasse sie am Arm, ganz vorsichtig, um keine Wunde zu erwischen. »Was willst du jetzt machen?«
»Was soll ich denn machen?«
»Hier ist meine Handynummer.« Ich schreibe ihr die Nummer auf einen Zettel. »Du rufst mich an, wenn der Drang stärker wird, wenn du wieder Lust bekommst, dich zu ritzen.«
»Und wenn es gerade mitten in der Nacht ist?«
»Kein Problem. Das macht gar nichts.«
»Hast du auch eine Mailadresse?«
»Hatte ich mal …« Ich wüsste gern, ob mir noch jemand an diese Adresse schreibt. Wie könnte ich das rausfinden? Ob ich gefahrlos einen Computer in der Schule benutzen kann?
»Du brauchst eine neue. Soll ich dir eine einrichten?«
»Das wäre toll.« Ich könnte es auch selbst machen, aber die Vorstellung, dass Claire etwas unternimmt, um mir zu helfen, gefällt mir.
»Danke, Joe. Vielen Dank, dass du mir vertraut hast.«
»Danke, dass du
mir
vertraut hast.«
Wir sind uns so nah und so aufeinander konzentriert, dass es mir vorkommt, als wäre die Welt stehen geblieben. Plötzlich ist es ganz leicht, miteinander zu reden. Sie erzählt mir von der Musik und den Büchern, die ihr gefallen, und ich erzähle ihr, dass ich schon verschiedene |222| Sprachen zu lernen angefangen habe und dass ich später mal Fußballdolmetscher werden will.
»Als ich dich das erste Mal französisch sprechen gehört habe, dachte ich, du bist Franzose«, sagt sie. Echt nett.
Aus dem Garten hört man nichts mehr, es ist, als würden wir in unserer eigenen kleinen Höhle sitzen. Ich beuge mich ein wenig vor, zu ihr … unsere Lippen berühren sich … und … RUMMS! Jemand rüttelt an der Klinke.
»Was ist los?«, ruft ihre Mutter. »Warum hast du die Tür verrammelt, Claire?«
Auch das noch! Ich wollte schon vor Stunden nach Hause gehen, und jetzt findet sie mich hier oben im verrammelten Zimmer mit ihrer halb nackten Tochter. Vielleicht kann ich mich unter dem Bett verstecken? Claire hat dieselbe Idee und zeigt auf den Boden, während sie ihre Bluse wieder anzieht.
»Alles in Ordnung, Mum, ich wollte bloß ungestört sein. Die Jungs waren vorhin hier drin, du weißt doch, dass ich das nicht mag.« Claire zieht den Stuhl weg und ihre Mutter macht die Tür auf.
»Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Claire. Warum musst du einen schönen sonnigen Nachmittag hier oben im Dunkeln verbringen, wo wir Gäste haben und so weiter. Du hättest wirklich ein bisschen helfen können.« Janet klingt ganz schön genervt. »Du könntest wenigstens ein bisschen Licht reinlassen.« Sie stapft zum Fenster und wäre beinahe über mich gefallen.
|223| Ich rappele mich vom Boden hoch. »Oh, Entschuldigung … ich habe … ähm, ich habe mich ein bisschen ausgeruht.«
Janet ist baff und weiß nicht, ob sie wütend werden soll oder nicht. Ich kann sehen, wie sie eins und eins zusammenzählt – ihre kleine Claire plus dunkles Zimmer plus Stuhl vor der Tür multipliziert mit gewalttätigem Halbwüchsigen (dessen Mutter als Teenager offensichtlich eine Schlampe war) – und vergeblich nach einer harmlosen Erklärung sucht.
Allem Anschein nach ist sie von Claires Attraktivität genauso überzeugt wie meine Mum von meiner. Garantiert entdeckt sie gleich, dass Claires Bluse nicht wie sonst bis unters Kinn zugeknöpft ist.
»Ach, du bist noch hier, Joe! Maureen hat angerufen und gefragt, wo du bleibst, und ich habe gesagt, dass du schon vor Stunden nach Hause gegangen bist.«
»Wir haben uns unterhalten«, sage ich verlegen, und Claire meint: »Joe wollte gerade los, stimmt’s?«
Janet sieht immer noch misstrauisch aus. »Noch mal vielen Dank für die Einladung«, sage ich, und sie erwidert: »Du kannst gern noch zum Abendessen bleiben, wenn du magst. Es ist fast sechs.«
»Nein danke, wenn Maureen mich schon sucht, muss ich schleunigst nach Hause.«
Ich verabschiede mich hastig. Claire ist ein bisschen rot und verlegen, und ich höre noch, wie ihre Mutter sie anschnauzt: »Was ist bitte schön so schlimm dran, runterzukommen, wenn
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