Mehr als nur ein Zeuge
Gänge, doch diesmal laufe ich durch eine Flügeltür und stehe im Zimmer meiner Oma, mit den ganzen piepsenden Maschinen und dem Geruch und den Verbänden … aber im Bett liegt nicht Gran, sondern Claire, und sie hat nicht die Arme zerschnitten, sondern die Kehle, und überall ist Blut, an den Wänden und auf dem Bett und es tropft auf den Boden, und ich höre jemanden schreien – aber das bin ich selbst …
Maureen sitzt im Nachthemd auf meinem Bettrand und gibt mir wieder eine kleine weiße Pille. »Nimm lieber noch eine«, sagt sie. »Schlafen bringt nichts, wenn du bloß Albträume hast.«
Ich nehme die Tablette, und als ich sie runterschlucke, frage ich mich, ob mein Leben – im Wachzustand oder im Schlaf – wohl irgendwann einfach wieder normal sein wird.
|251| Kapitel 20
Sharon und der Papst
Am nächsten Morgen will ich laufen gehen. Ich ziehe meine Sportsachen an und binde mir die Schuhe zu. Ich mache die Haustür auf und denke daran, wie ich mich gleich aufwärme, dann meine Dehnübungen mache und anschließend mindestens eine Stunde laufe.
Dann fährt ein Auto vorbei und ich mache die Tür wieder zu.
Drei Mal öffne ich die Tür, und drei Mal mache ich sie wieder zu. Schließlich setze ich mich auf die Treppe und beobachte die Straße eine Weile, in der Hoffnung, dass ich es über mich bringe loszujoggen, wenn ich sehe, was für eine langweilige, ruhige Straße es ist.
Stattdessen sehe ich Ashley Jenkins den Hügel herauf auf mich zukommen. Sie ist braun gebrannt und trägt knappe Shorts und ein bauchfreies Oberteil, und ich wundere mich selbst, dass ich nicht mehr empfinde als einen Anflug von Interesse. Vielleicht haben mich Maureens Beruhigungsmittel nicht nur runtergepegelt, sondern gleich ganz abgeschaltet. Ich hoffe nur, das bleibt nicht so. Falls doch, muss ich die Polizei verklagen, und das wäre eine ziemlich peinliche Angelegenheit.
|252| Es kann kein Zufall sein, dass Ashley hier langkommt. Bloß: Woher weiß sie, wo ich wohne? Ach so, ich bin vielleicht blöd! Ihre Tratschtante von Mutter hat meine Adresse garantiert aus den Schulakten gefischt.
»Hallo, Joe«, sagt sie. »Darf ich reinkommen?«
»Ja, klar«, antworte ich ein bisschen verunsichert. Erwartet sie jetzt, dass ich sie mit rauf in mein Zimmer nehme, wo immer noch meine verschwitzten Klamotten von gestern herumliegen? Will sie unsere Beziehung auf einen neuen fantastischen und zugleich Furcht einflößenden Level befördern? Bin ich dazu momentan eigentlich fähig? Sind wir überhaupt noch zusammen? »Willst du einen Kaffee?«
Wir gehen in die Küche, wo Maureen und Doug am Tisch sitzen und meine Besucherin neugierig mustern. Ich kümmere mich nicht um die beiden und fülle wortlos Wasser in den Kessel, aber damit mache ich mich bloß lächerlich, denn Maureen stellt sich sofort vor: »Hallo, ich heiße Maureen, und das ist Doug«, und Ashley sagt: »Hi, ich bin Ashley«, dann schauen alle drei mich an und ich sage nichts.
Ich mache Kaffee und sage: »Wir gehen nach oben«, um zu testen, ob sie was dagegen haben.
Aber Ashley verdirbt alles, indem sie sagt: »Ach, weißt du, Joe, vielleicht bleiben wir lieber im Wohnzimmer, falls wir dort keinen stören.«
Ich sehe Doug und Maureen vielsagende Blicke wechseln und komme mir wie ein Volltrottel vor. Allen Anwesenden ist klar, dass ich gleich die Erfahrung machen |253| darf, ganz offiziell abgesägt zu werden. Wahrscheinlich lauschen Doug und Maureen an der Tür und amüsieren sich köstlich.
Wir gehen ins Wohnzimmer und ich mache die Tür zu. »Wo ist deine Mutter?«, will Ashley wissen. »Oder sind das deine richtigen Eltern, und du hast bloß so getan, als wär deine große Schwester deine Mum?«
»Nein, meine Mutter ist verreist und die beiden leisten mir Gesellschaft. Es sind einfach nur Freunde.«
»Aha.«
»Wie war dein Urlaub?«
»Prima.«
Ich habe nicht vor, sie zu fragen, warum sie hergekommen ist, wenn sie es nicht von sich aus sagt. Von mir aus können wir noch stundenlang so weiterplaudern.
»Schönes Wetter gehabt?«
»Ja, viel Sonne.«
»Nettes Hotel?«
»Ja, ausgezeichnet.« Sie seufzt. »Hör mal, Joe, ich wollte nicht mit nach oben, weil ich finde, dass wir miteinander reden müssen.«
»Ach ja?«
»Es ist … weißt du, ich dachte mir, vielleicht ist es besser, wenn wir uns nicht mehr treffen.«
Darauf gibt es zwei mögliche Antworten. Ich könnte sagen: »Ja, in Ordnung, hat Spaß gemacht, auch wenn’s nur zwei Wochen
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