Mehr als nur ein Zeuge
weil deine Mutter bei deiner Geburt zufällig |257| noch ein Teenager war, und dein Dad keinen Bock hatte, sich um dich zu kümmern.
»Versteh mich bitte nicht falsch, Joe«, sagt Ashley. »Ich habe überhaupt nichts gegen deine Mutter. Ich finde sie echt cool, aber sie muss super jung gewesen sein, als sie dich gekriegt hat. Nicht viel älter als wir jetzt. Und ich will einfach nicht in die Lage kommen, eine solche Entscheidung treffen zu müssen.«
Ich kann sie nicht mal mehr ansehen. »Na toll, Ashley. Jede Wette, das sagst du zu allen deinen Freunden.«
»Nein, Joe. Ehrlich nicht.«
»Wahrscheinlich hast du dich in Spanien in irgendeinen Kellner verknallt und die ganze Woche mit ihm rumgemacht.«
»Nein … nein … ich habe wirklich lange über uns nachgedacht.«
»Warum kommst du dann hierher, aufgebrezelt wie eine kleine Nutte?«
Sie schaut mich entgeistert an. Meine Tanten würden mich umbringen, wenn sie mich so mit einem Mädchen reden hören würden. Aber das ist mir egal. Ich will Ashley wehtun, weil sie mir wehgetan hat.
»Ich bin keine …«
»Ja, ja … Na, jetzt isses ja raus, Ashley. Was willst du deinen Freundinnen erzählen? ›Er war so heiß, ich konnte mir selbst nicht mehr trauen, bei diesem Körper, also hab ich ihn abserviert‹? Oder lieber: ›Ich dachte, er ist ein völliger Psycho, mit seinem Messer und so‹?«
»Keine Ahnung.«
|258| »Vielleicht erzähle ich ja überall herum, ich hätte Schluss gemacht, weil du eine Schlampe bist.«
Sie steht auf, und ich merke, dass ich sie getroffen habe. »Nur zu«, sagt sie. »Mir egal. Das denken sowieso alle von mir.«
»Ich mach’s ja gar nicht.« Ihre unerwartete Reaktion beschämt mich. »Es tut mir leid, Ashley. Ich dachte, du ziehst über meine Mum her, und davon hab ich die Schnauze bis obenhin voll.«
»Ich sage den anderen, dass wir uns getrennt haben, weil meine Eltern das so wollten, nachdem du Carl verprügelt hast. Was sogar stimmt. Aber egal, was ich sage, danach dürften sämtliche Mädchen hinter dir her sein.«
»Schon, aber sie haben zu viel Schiss vor dir, um mich anzusprechen.«
Sie zuckt die Achseln. »Dann sag ich ihnen eben, dass sie jetzt wieder mit dir reden dürfen.«
»Alle?«
Sie schaut mich misstrauisch an. »Wieso … an wen denkst du denn?«
»Ach, an niemand Bestimmtes …«
»Hmm.« Sie weiß nicht, was sie davon halten soll, aber ich habe doch hoffentlich alles so weit geklärt, dass ich jetzt mit Claire auch in der Schule reden darf.
Ashley geht, und ich sitze auf dem Sofa und bin ziemlich aufgewühlt, obwohl mich eigentlich nicht aufregt, dass Ashley mit mir Schluss gemacht hat, vielmehr regen mich die Erinnerungen auf, die das alles wieder hochgebracht |259| hat, die endlosen Tage und Jahre, in denen man mir immer wieder einreden wollte, dass mit mir etwas nicht stimmt, weil meine Mum jung und arm ist und ein Kind gekriegt hat, obwohl sie selbst fast noch ein Kind war.
Es geht nicht nur um so Zeug, wie dass man am Vatertag niemanden hat, für den man eine Karte basteln kann, oder um die Politiker, die im Fernsehen verkünden, dass alleinerziehende Mütter ein Problem für die Gesellschaft sind. Auch nicht um Vicky Pollard in
Little Britain
und das Wort Schlampe oder das Wort Bastard.
Es geht um die Art und Weise, wie alle am ersten Elternabend an der St. Saviours geguckt haben. Mir hat sich richtig der Magen umgedreht, als ich gemerkt habe, dass alle anderen Eltern zu zweit gekommen waren – sogar die von Arron, obwohl sein Vater inzwischen nicht mehr der von früher war –, und Mum war mindestens zehn Jahre jünger als alle anderen Eltern und auch ganz anders angezogen als die anderen Mütter, die entweder Schickimickis oder alte Vogelscheuchen waren.
Und die Rufe auf dem Schulhof, die Rufe, bei denen ich immer so getan habe, als würde ich sie nicht hören.
Deine Mum ist
’
ne Schlampe! Deine Mum ist
’
ne Nutte! Will
’
s deine Mum nicht mal mit mir treiben?
Niemand hat mich auch nur ansatzweise verstanden. Meine Tante Emma meinte, ich mache viel Wind um nichts, und sie sei sicher, dass viele meiner Schulkameraden alleinerziehende Mütter hätten, und als ich ihr erklärt habe, dass die meisten auch Väter hätten, hat sie |260| bloß gemeint: »Nach allem, was ich über ihn gehört habe, bist du ohne ihn besser dran.«
Mr Patel fand, dass jede Frau einen guten Mann braucht und dass ich vielleicht mal mit ihm in die Moschee kommen sollte, damit ich
Weitere Kostenlose Bücher