Mehr als nur ein Zeuge
Blau, Rot, Gelb, A, B, C. Sehr hilfreich, wenn man weiß, wo man hinwill, aber das weiß ich ja gerade nicht. Ich laufe einfach, durch hallende Korridore, eine Treppe hoch, vorbei an Stationen voller Leute, die mir nicht helfen können.
|241| Ich versuche so schnell zu rennen wie für Ellie, aber es klappt nicht. Ich kriege meine Atmung nicht in den Griff. Mein Atem geht flach und abgehackt, ein zittriges, ängstliches Keuchen, ein Keuchen, von dem ich langsamer werde und Seitenstechen bekomme. Was hat man davon, ein guter Läufer zu sein, wenn man im Notfall nicht richtig rennen kann?
Ich muss pinkeln. Ich sehe ein Klo und niemanden in der Nähe, vielleicht ist das ja ein gutes Versteck. Zum Glück ist niemand drin. Ich schließe mich in einer Kabine ein, erledige, was zu erledigen ist, und steige auf den Toilettensitz. Dort kauere ich mich zusammen und versuche, vernünftig nachzudenken. Im Kino wäre das Ganze echt aufregend, richtig geile Action. Aber wenn einem so was in echt passiert und man nicht weiß, was man tun oder wo man hin soll, ist es nicht mehr ganz so geil.
Wenn sich der bewaffnete Gangster nun auf die Intensivstation schleicht? Wenn er nun weiß, wo sich meine Familie aufhält? Ich muss ihm zuvorkommen!
Ich höre, wie die Tür leise quietschend aufgeht. Jemand kommt rein. Ich halte den Atem an, will warten, bis derjenige auf dem Klo war, sich die Hände gewaschen hat und wieder raus ist. Aber nichts. Jemand steht direkt vor der Kabinentür. Um Gottes willen … Gehen Kugeln durch Türen? Ganz bestimmt.
Ich muss etwas unternehmen. Ich stelle mich auf den Klositz und trete die Tür auf. Als ich runterspringe, trete ich noch einmal zu und spüre, wie sich mein Fuß in den Unterleib von einem Typen bohrt – und er rückwärts gegen |242| die Pissbecken fliegt. Ich sehe nicht mal hin, versuche nicht mal zu erkennen, ob er eine Knarre hat oder nicht, ich reiße die Tür zum Flur auf und renne weg.
Intensivstation. Ich muss die anderen warnen! Ein Wegweiser taucht auf und ich bleibe kurz stehen. »Intensivstation« … immer der roten Linie nach … hier, und dann da lang, und dann Treppe oder Fahrstuhl? Ich entscheide mich für die Treppe und flitze drei Stockwerke hoch. Oben muss ich kurz verschnaufen, aber ich bin wieder zuversichtlich. Ich schaffe es, ich kann sie retten …
Die Fahrstuhltür geht auf und ein großer Mann kommt raus. »Stehen bleiben!«, ruft er mir zu und wirft sich wie beim Rugby auf mich, aber ich kontere mit einem weiteren Tritt. Zack! Mein Absatz kracht ihm in die Zähne. Ich will noch einen Faustschlag hinterherschicken, da fällt mein Blick auf sein Gesicht. Scheiße.
Es ist Doug.
»Tut mir leid, tut mir echt leid, Doug. Ich wusste nicht, dass Sie das sind.«
Er rappelt sich hoch, Blut tropft ihm von den Lippen. »Sag mal, was soll das? Erst trittst du mir in die Eier, dann in die Zähne.«
Ach nee, warum wohl? »Ich hab nicht gecheckt, dass Sie das sind. Ich wollte abhauen, ich dachte, Sie sind der Typ, der auf Dave geschossen hat. Haben Sie das eigentlich mitgekriegt? Er braucht Hilfe …«
»Mach dir um Dave keine Sorgen. Ihm geht’s so weit gut. Wir müssen uns jetzt auf dich konzentrieren.«
|243| »Wie haben Sie mich eigentlich gefunden?«
»Wir haben dir einen Sender angesteckt, bevor du hier rein bist. Offen gestanden habe ich sogar damit gerechnet, dass du einfach abhaust. Du bist ein ziemlich unberechenbarer kleiner Scheißer.«
»Was für einen Sender?«
»Elektronisches Ortungsgerät. Sehr nützlich, wenn sich jemand aus dem Staub macht.«
»Dave hat gesagt, ich soll weglaufen … Ich wollte ihn nicht im Stich lassen …«
Doug holt sein Handy raus. »Ich hab ihn. In zehn Minuten am Haupteingang.«
»Haupteingang? Ist das nicht zu riskant?« Ich komme mir vor wie ein Selbstmordattentäter. Überall, wo ich auftauche, könnte ich unschuldigen Menschen Tod und Vernichtung bringen.
»Gerade dort dürften sie nicht mit uns rechnen. Geh langsam und benimm dich ganz normal.«
Wir marschieren den Flur zurück. Mein Atem geht immer noch abgehackt und schmerzhaft, und ich drehe mich andauernd um und schaue nach links und rechts. »Was ist mit Mum und Gran?«, frage ich, und Doug antwortet: »Um die kümmern sich genug Leute.«
Wir sind fast da. »Ganz ruhig«, murmelt Doug. »Sobald wir in der Nähe von anderen Leuten sind, tu nichts, was die Aufmerksamkeit auf dich lenkt.«
Ich höre Polizeisirenen und hoffe, dass Dave in
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