Mehr als nur ein Zeuge
alte Frau auf sie einredet. Ich warte geduldig, bis die Alte davontapert, |284| dann schaut Claire zu mir rüber, lächelt und sagt: »Hallo. Na?«
»Können wir hochgehen und reden?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Mum hat gesagt, ich soll unten bleiben.«
»Aber hier ist es zu laut. Wo können wir noch hin?«
Sie überlegt, dann sagt sie: »Ellies Zimmer. Das ist nicht oben. Mum hat nur gesagt, nicht nach oben.«
Komisch. Mit Ashley wusste ich immer, woran ich war. Ich mochte sie nicht, aber sie gefiel mir. Eine klare Sache.
Bei Claire bin ich mir total unsicher. Ich mag sie. Ich denke an sie … aber nicht so. Nicht so, wie ich abends im Bett an Ashley denke. Ich stelle mir vor, dass ich mich um Claire kümmere, dass sie sich um mich kümmert, dass wir uns nah sind und miteinander reden und uns sehr persönliche Sachen anvertrauen und lauter so rührseliges Zeug.
Wenn ich sie in der Schule sehe, bin ich überhaupt nicht scharf auf sie, dafür ist sie zu eigen, und ich versuche nicht dran zu denken, wie sie sich geritzt hat, denn es ist nicht gut, von so was angetörnt zu werden. Schließlich bin ich nicht pervers. Ich hatte nur ganz kurz die abwegige Idee, dass es irgendwie spannend wäre.
Aber manchmal, wenn ich an den Tag denke, als sie ihre Bluse ausgezogen hat, macht mich das doch ein bisschen an, und jetzt, wo ich in ihre großen blauen Augen schaue, ist die Aussicht, mit ihr allein zu sein, ziemlich verlockend. Wenn ich doch bloß nicht so unentschlossen wäre!
|285| »Wir müssen aber ganz leise sein«, sagt sie.
Wir gehen in die Diele, wo sich wundersamerweise niemand aufhält. Claire macht die Tür von Ellies Zimmer auf und wir huschen rein. Aber es hat keinen Zweck. Es ist laut und furchtbar heiß, auch dann noch, als ich den Kapuzenpulli ausziehe, andauernd kommt jemand an der Tür vorbei, und am schlimmsten, jeder, der im Vorgarten steht, kann uns durchs Fenster beobachten. »Hier kann man nicht reden«, sage ich atemlos, »das bringt nichts.«
Also schleichen wir uns nach oben und hoffen einfach, dass niemand was merkt. Kaum sind wir in ihrem Zimmer, klemmt Claire wieder den Stuhl unter die Türklinke. Ich ziehe den Vorhang zu. Dann sitzen wir im Dunkeln auf ihren Kissen und ich lege den Arm um sie und bin so glücklich wie schon lange nicht mehr.
»Danke, dass du mir die Mailadresse eingerichtet hast.«
»Schon gut. Hättest du auch selber machen können.«
»Ich dachte, du bist sauer auf mich, weil ich nicht an Ellies Wettkampf gedacht habe.«
»Den hätte ich am liebsten auch vergessen!«, schnaubt sie. »Seit Wochen geht es bei uns nur noch um den Wettkampf, den Wettkampf und noch mal den Wettkampf. Jetzt hat sie gewonnen und Magda hat gekündigt, und jetzt dreht sich das kommende Jahr bloß noch um ihr Training für die Paralympics, und Mum und Dad sind dann auch ständig unterwegs und überhaupt geht es wie üblich immer nur um Ellie.«
|286| »Magda hat gekündigt?«
Sie kichert. »Die hatte keinen Bock mehr, sich rumkommandieren zu lassen. Ist immer dasselbe.«
Ich persönlich lasse mich gern von Ellie herumkommandieren, aber ich kann nachvollziehen, dass es nicht so prickelnd ist, wenn man nicht gerade von ihr trainiert wird.
»Freust du dich nicht, dass deine Schwester gewonnen hat?«
»Für sie freut’s mich schon, aber nicht für mich.«
Ich fasse sie so sanft wie möglich am Arm. »Alles klar mit dir? Oder hast du wieder … du weißt schon …?«
»Nein … aber es fällt mir nicht leicht. Ich hab dich neulich angerufen, aber es ist keiner drangegangen.«
Sie trägt heute ein langes Oberteil aus dünnem Stoff und drunter Leggings, was immerhin besser aussieht als ihre üblichen viel zu großen Blusen, aber sie geht immer noch darin unter. Ich schiebe ihre Ärmel hoch und betrachte ihre Arme. Zumindest sind keine neuen Pflaster dazugekommen, aber der letzte Schnitt, der, bei dem ich sie beobachtet habe, sieht rosa und entzündet aus. Ich streiche mit dem Finger über ihren Unterarm. »Tut mir leid. Ich war weg.«
Dann erzähle ich ihr von Gran und vom Krankenhaus und dass Gran aufgewacht ist und wie ich mit Dave nach draußen gegangen bin. Und von dem Blut, den Krankenhausfluren und dass ich Doug zweimal getreten habe. Und dass das Schlimmste hinterher kam, allein unter dieser Decke.
|287| Sie hört zu, nimmt meine Hand und fragt: »Was sind das für Leute, die dich umbringen wollen?«
Darüber habe ich in den letzten paar Tagen auch oft
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