Mehr als nur ein Zeuge
und
weniger
als alle anderen.
»Ach, eins noch, Joe«, sagt Ellie. »Ich frage dich das, weil es sonst keiner tut. Was in aller Welt hast du drei Stunden lang im abgeschlossenen Zimmer meiner kleinen Schwester getrieben?«
»Ich … ähm …«
»Claire will nichts sagen, und meine Mum weiß überhaupt nicht, was sie davon halten soll, und macht sich |277| Sorgen, dass du irgendwelche … Absichten verfolgt hast. Ich habe ihr natürlich gesagt, dass du in der Schule eine Riesenauswahl an Mädchen hast und es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass du dir ausgerechnet Claire ausgesucht hast, aber Mum scheint das anders zu sehen. Sie hat gesagt, es war dunkel im Zimmer.«
»Wir haben bloß geredet und dann war ich auf einmal total müde und musste mich auf den Boden legen …«
Ellie sieht nicht besonders überzeugt aus. »Ich kann mir nicht vorstellen, worüber ihr beide euch unterhalten habt. Claire macht doch sonst nie den Mund auf. Oder willst du damit sagen, dass sie dich so gelangweilt hat, dass du eingeschlafen bist?«
»Nein, wir haben über die Schule und so geredet. Man kann sich echt gut mit ihr unterhalten. Vielleicht solltet ihr es öfter mal versuchen.«
Jetzt bin ich an Claires Stelle ein bisschen verärgert. Schließlich nimmt Claire so viel Rücksicht auf Ellie, dass sie nicht mal mehr mit mir spricht, obwohl es Ellie nichts auszumachen scheint, dass ich ihr Rennen vergessen habe.
Ellie zuckt die Achseln. »Wie du meinst. Bis später dann …« Ich muss mich beeilen, um nicht zu spät zu Mathe zu kommen. Ellie rollt weiter in Richtung Laufbahn.
Erst als ich am Nachmittag nach Hause gehe, kann ich Claires Zettel in Ruhe lesen. Es steht nur eine E-Mail -Adresse und ein Passwort drauf. Claire hat ihr Versprechen gehalten und mir einen Account eingerichtet. Jetzt |278| können wir uns schreiben, egal wo ich bin, egal was passiert, egal wie ich heiße. Jetzt, wo Mum zusammenbricht und Gran krank ist und meine Tanten irgendwo im Ausland untergetaucht sind – wo zum Teufel sind sie eigentlich? –, ist das endlich mal etwas, das Beständigkeit, Unterstützung, Freundschaft verspricht. Ich beschließe, heute Abend auf jeden Fall zu Ellies Party zu gehen.
|279| Kapitel 22
Claire
Als ich heimkomme, ist Nicki in der Küche. Maureen scheint nicht da zu sein, und ich krieg einen Schreck, weil ich denke, dass sie schon weg ist. Aber Mum geht es eindeutig besser. Sie hat sich sogar geschminkt, und zum ersten Mal, seit wir in dieses Haus gezogen sind, läuft das Radio.
»Setz dich, ich hab Tee gemacht«, ruft sie.
Ich setze mich an den Küchentisch und frage: »Geht’s dir gut?«
»Es tut mir so leid, Ty. Hab ich dir Angst gemacht?«
Der Begriff »Angst« hat für mich inzwischen eine völlig andere Bedeutung bekommen. So was wie Horrorfilme oder in der Schule einen Tadel zu kriegen, Dinge, vor denen ich früher Angst gehabt hätte, jucken mich jetzt überhaupt nicht mehr. Auch den letzten Abend mit Mum würde ich nicht beängstigend nennen, verglichen damit, dass, sagen wir mal, jemand auf dich schießt. Nur die Vorstellung, dass man mich hier mit einem Zombie allein lässt, die war schon ziemlich gruselig.
»Nein. Aber du warst ganz schön neben der Spur.«
»Die Beamten haben mir eine Tablette gegeben und |280| ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen, außerdem machen mich Krankenhäuser schon im Normalzustand ganz kirre. Ty, Maureen hat mir erzählt, was in der Schule vorgefallen ist.«
»Ist schon wieder in Ordnung. Du brauchst dir deswegen keine Sorgen machen.«
»Aber ich mache mir Sorgen um dich, ehrlich … Es tut mir so leid, dass ich mich nicht um dich kümmern konnte.«
»Gran hat dich mehr gebraucht als ich.«
»Das habe ich nicht gemeint, und das weißt du auch. Seit wir aus London weg sind, konntest du dich nicht auf mich verlassen.«
Ich widerspreche ihr nicht. »Dann bist du nicht sauer wegen der Sache im Schwimmunterricht?«
Sie schüttelt den Kopf. »Hauptsache, so was wird nicht zur Gewohnheit. Maureen hat mir alles erklärt. Klingt, als wären die anderen Jungen ziemlich gemein zu dir gewesen. Geht das immer noch so? Mobben sie dich?«
Schon komisch, dass sie mich das nie gefragt hat, als ich noch auf die St. Saviours gegangen bin, als es mir jeden Tag beschissen ging und Mum immer nur mit ihrer Arbeit und was weiß ich beschäftigt war. Sie war so froh, dass ich auf einer guten Schule war, dass wir nie richtig miteinander geredet haben, außer
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