Mehr als nur ein Zeuge
habe.
»Nett«, wiederholt sie. Ich glaube nicht, dass sie das sehr beeindruckt. Ich bin selbst völlig verlegen und aus der Fassung, weil ich so was noch nie erlebt habe – mich jemandem so nah zu fühlen, so gleichberechtigt, so umsorgt und selbst so fürsorglich. Man könnte es Zärtlichkeit nennen, aber ich schrecke vor dem Ausdruck zurück. Für einen solchen Fall hat mir Arron keine Tipps gegeben.
»Ich find dich toll«, sage ich. Und dann, weil es mich echt beschäftigt: »Wie alt bist du eigentlich?«
»Am 5. November werde ich vierzehn.« Sie ist genau ein Jahr jünger als ich. Das ist gut.
»Ist ja’n Ding … Ich hab am selben Tag Geburtstag, bloß dass ich fünfzehn werde. Die Polizei hat mein Geburtsdatum auf den 5. September umgeändert.«
»Das stelle ich mir schrecklich vor, wenn auch noch der Geburtstag geändert werden muss.«
Mum ist an meinem Geburtstag immer mit mir zum Feuerwerk gegangen. Gran wollte nie mitkommen, weil ihrer Meinung nach die Guy-Fawkes-Nacht ein antikatholisches Fest ist, aber Mum meinte, es gehe dabei um Anti-Terrorismus und obendrein um ein bisschen Spaß. |291| Vielleicht können wir ja auch dieses Jahr zum Feuerwerk, aber so wie früher wird es nicht sein.
Ich drücke Claires Hand. »Redest du jetzt auch in der Schule mit mir, jetzt wo mit Ashley alles geklärt ist?«
»Glaub schon, aber die anderen finden es bestimmt trotzdem ziemlich seltsam. Ich habe keine Freunde und mit dir will jeder befreundet sein. Und Ashley ist so eine ekelhafte Zicke … das kannst du dir nicht vorstellen, Joe, sie ist so fies. Sie hat Macht über alle anderen Mädchen, sie hat ihnen erzählt, ich sei total gestört, und dann waren alle gemein zu mir.«
Ich möchte Claire ungern sagen, dass die Art, wie sie sich kleidet und verhält, womöglich auch ein bisschen zu ihrem Ruf beiträgt. Aber ich glaube ihr, wenn sie sagt, dass Ashley die anderen Mädchen gegen sie aufgehetzt hat.
»Was die anderen sagen, ist mir scheißegal«, behaupte ich und hoffe, dass es stimmt. Ich küsse sie noch einmal ganz vorsichtig, um mich zu vergewissern. Sie riecht nach Seife und sie schmeckt süß und ein bisschen nach Pfefferminz. Sie ist so was von süß. »Du bist was ganz Besonderes«, sage ich, aber ich sage es auf Portugiesisch, und sie muss lachen.
Und dann – verdammte Hacke! – hämmert jemand an die Tür. Ihre Mutter will nach ihr sehen und findet prompt genau das vor, was sie verboten hat. Claire wird knallrot und gerät in Panik, als sie den Stuhl von der Tür wegnimmt, und mir ist alles total peinlich.
»Claire!«, ruft Janet. Sie ist nicht sehr angetan. »Was geht hier vor?«
|292| »Nichts«, sage ich und weiche ein paar Schritte von Claire weg, die absolut nicht überzeugend antwortet: »Wir wollten uns bloß in Ruhe unterhalten.«
»Das hättet ihr auch unten machen können … Ich finde es nicht sehr passend, dass ihr hier im Dunkeln sitzt.«
Ich stehe auf. »Unten war es sehr laut, Mrs Langley, wir wollten wirklich keinen Ärger machen … Ich gehe auch gleich. Und … äh, vielen Dank für die Einladung.« Schon bin ich an der Treppe und laufe nach unten, ohne mich noch mal umzudrehen.
Ich betrete den Garten. Ich muss Mum suchen und nach Hause gehen, ehe es zu spät wird, denn ich werde immer noch unruhig, wenn ich in der Dunkelheit draußen rumlaufe. Im Garten ist es ziemlich frisch, und mir fällt mein Kapuzenpulli ein, der immer noch in Ellies Zimmer liegt. Ich will ihn mir schnell holen.
Aber als ich die Tür zu dem Zimmer aufmache, ist jemand drin. Zwei Leute sitzen auf Ellies Bett. Einer ist ein Typ … ich glaube, es ist Alistair, derjenige, der aussieht, als wollte er bei
Boyzone
mitmachen. Und er küsst meine Mum.
|293| Kapitel 23
Für den Übergang
Natürlich ist das nicht das erste Mal. Mir sind schon ein- oder zweimal unerwartete Besucher am Frühstückstisch begegnet, und wenn Mum einen Freund hat, verbringe ich mehr Zeit als sonst bei Gran oder unten bei Mr Patel oder in meinem Zimmer. Es ist ja nicht so, dass ich noch nie gesehen hätte, wie sie jemanden küsst.
Aber sie hat noch nie was mit jemandem auf einer Party angefangen, auf der ich auch bin, was natürlich auch daran liegt, dass die einzigen Feiern, auf denen wir zusammen waren, Sachen wie Trampolinpartys zu einem siebten Geburtstag im Freizeitzentrum waren oder Großtante Ediths Beerdigung.
»Kümmert euch nicht um mich«, sage ich und schnappe mir meinen Pulli. Sie
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