Mehr als nur ein Zeuge
inzwischen auch schon egal. Ich habe genug andere Sorgen. »Kannst du mich zum Krankenhaus fahren?«, frage ich.
»Geht’s dir so schlecht, Liebling?«, fragt Mum besorgt, und ich sage: »Nein, mir nicht, aber ich möchte Claire besuchen. Ich muss sie jetzt gleich sehen.«
Die beiden fahren mich zum Krankenhaus und bestehen drauf mitzukommen, was mir eigentlich nicht passt, aber dann erfahren wir, dass Claire gerade entlassen wurde, und es ist gut, dass die beiden noch da sind, um mich zu Claire nach Hause zu bringen.
»Ich fahr dann weiter«, sagt Alistair. »Es ist bestimmt zu viel des Guten, wenn ich auch noch mitkomme.«
»Fahr doch mit ihm, Mum«, sage ich, aber sie antwortet: »Ich habe allmählich die Nase voll, mir dauernd von dir sagen zu lassen, was ich tun und lassen soll. Ich will endlich wissen, was eigentlich los ist.«
Während ich langsam zu Claires Haustür gehe, gibt sie Alistair einen Kuss – einen langen, leidenschaftlichen Kuss, der in diesem Augenblick völlig unangebracht ist! –, dann sagt er: »Ich ruf später an.«
Mum holt mich ein und klingelt. Claires Vater macht auf. Er sieht müde und verärgert aus. »Wir haben Claire eben aus dem Krankenhaus geholt. Kommt lieber später noch mal vorbei.«
»Bitte!«, sage ich. »Ich muss dringend mit Ihnen reden, mit Ihnen und Janet. Wenn Sie nicht wollen, muss ich Claire nicht unbedingt stören.«
|324| »Hören Sie sich doch bitte an, was Joe zu sagen hat«, kommt mir Mum zu Hilfe. »Was passiert ist, hat ihn ganz schön aufgewühlt.«
Claires Vater kratzt sich den Kopf, dann meint er: »Na schön, mein Junge, schließlich sind wir dir etwas schuldig. Hättest du ihr nicht geholfen, wäre sie jetzt vielleicht nicht mehr am Leben. Kommt rein, dann können wir uns unterhalten.«
Er geht mit uns in die Küche, wo wir uns an den großen Tisch setzen. Dann verschwindet er ziemlich lange nach oben. Wir warten und schauen uns um. Überall stehen Fotos von Ellie, es liegt lauter Zeug herum, das den Jungs gehört, aber nichts deutet darauf hin, dass Claire auch hier wohnt. Ist sie letztendlich selbst schuld dran, dass sie so unsichtbar ist – oder hat ihr ihre Familie einfach nicht genug Platz gelassen? Wie wäre sie wohl als Einzelkind, so wie ich?
Schließlich kommen sie beide runter und setzen sich zu uns. Janet und Gareth. Zwei nette Menschen, die zehn Jahre älter aussehen als bei unserer letzten Begegnung. Janet hat rot geschwollene Augen und ihre Nasenspitze ist ebenfalls rot. Gareths Gesicht ist ganz blass unter den Sommersprossen. Jetzt, wo sie mir gegenübersitzen, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Zum Glück ist Mum dabei.
»Janet, Gareth … das mit Claire tut uns furchtbar leid!«, sagt sie. »Es tut mir auch leid, dass wir so hereinplatzen, aber Joe wollte unbedingt wissen, wie es ihr geht. Das Ganze hat ihn ziemlich schockiert.«
»Ach ja?«, sagt Janet mit einer kalten Stimme, die man |325| einer so netten Frau nicht zugetraut hätte. »Wir möchten auch gern mit Joe reden. Wir möchten nämlich von ihm hören, wie es so weit kommen konnte.«
Alle sehen mich an. Wo soll ich anfangen? So was ist schwer, wenn man davon ausgehen muss, dass die anderen schlecht von einem denken, auch wenn sie es nicht direkt aussprechen.
»Ich wusste, dass Claire sich ritzt, aber sie hat gesagt, dass sie damit aufhört. Ich wollte ihr helfen … sie ist meine Freundin …« Ich spüre die Feindseligkeit von der anderen Tischseite zur mir rüberstrahlen.
»Woher hast du das denn gewusst?«, fragt Janet. »Was hast du mit Claire gemacht, als ihr euch oben eingeschlossen habt? Wir haben dir vertraut, Joe, dich eingeladen … wir wollten, dass du dich bei uns wohlfühlst …«
»Ich habe gar nichts mit Claire gemacht! Echt nicht. Wir haben bloß geredet.« Ich werde ein bisschen lauter, denn es ist nicht angenehm, wenn man beschuldigt wird, obwohl man gar nichts Schlimmes getan hat.
»Und worüber habt ihr geredet?«
»Über alles Mögliche. Ich unterhalte mich gern mit Claire und ich glaube, sie unterhält sich gern mit mir.«
»Das kannst du laut sagen – dass sie dich gern hat!« Janet hört sich an, als könnte sie sich nur mit Mühe zurückhalten loszuschreien. »Sie ist verrückt nach dir. Ich will wissen, was ihr außer Reden noch gemacht habt!« Jede Wette, dass sie das mit den Blusenknöpfen mitgekriegt hat.
|326| »Joe hat doch gerade gesagt, dass die beiden sich nur unterhalten haben«, geht Mum
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