Mehr als nur Traeume
Stuhl zu. Sie konnte sich jedoch nicht darauf sinken lassen, weil das Stahlkorsett nur ein kerzengerades Sitzen erlaubte.
Sie saß also in dieser erzwungenen aufrechten Haltung auf dem Stuhl, während Honoria ihr dickes kastanienrotes Haar auskämmte, es nach hinten zog und zu Zöpfen flocht, die sie dann auf Dougless’ Scheitel mit beinernen Nadeln feststeckte. Über den Zöpfen befestigte Honoria auf Dougless’ Hinterkopf eine kleine Kappe, die Dougless an ein Haarnetz erinnerte. Auch hier waren die feinen, sich kreuzenden Fäden an den Schnittstellen mit Perlen bestickt.
Honoria half Dougless beim Aufstehen. »Ja«, sagte sie lächelnd, »Ihr seid ungemein schön.«
»So hübsch wie Lettice?« fragte Dougless, ohne sich erst ihre Worte zu überlegen.
»Lady Lettice ist ebenfalls ungemein schön«, erwiderte Honoria.
Dougless lächelte. Taktvoll, überaus taktvoll.
Honoria bat Dougless nun, sich auf den Bettrand zu setzen und die Beine von sich zu strecken, worauf sie ihr handgestrickte feine Wollstrümpfe überstreifte und diese unter den Knien mit hübschen, mit Hummeln bestickten Strumpfbändern befestigte. Dann schob sie weiche Lederschuhe mit Korksohlen über Dougless’ Füße und half Dougless dann wieder beim Aufstehen.
Dougless ging langsam zum Fenster und wieder zurück. Diese Kleider waren natürlich lächerlich - schwer, sperrig und schrecklich ungesund für die Lungen. Dennoch . . . Sie legte die Hände um ihre Taille. Sie war so schmal, daß sie mit den Fingerspitzen der einen Hand die Fingerspitzen der an deren Hand berühren konnte. Sie trug Perlen, Gold, Smaragde, Seide und Brokat, und obwohl sie kaum atmen konnte und ihr die Schultern bereits weh taten von dem Gewicht, das sie tragen mußten, war sie sich in ihrem Leben noch nie so schön vorgekommen wie jetzt.
Sie drehte sich im Kreis, und die Röcke bauschten sich anmutig und zeigten ihre Beine.
Sie blickte Honoria an. »Wem gehört dieses Kleid?«
»Mir«, erwiderte Honoria leise. »Wir haben ungefähr die gleiche Größe.«
Dougless ging zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schulter. »Ich danke dir vielmals, daß du mir das Kleid geliehen hast. Das war sehr großzügig von dir.« Sie küßte Honoria auf die Wange.
Honoria errötete, wandte sich verwirrt ab und sagte: »Es ist der Wunsch von Lady Margaret, daß Ihr heute abend etwas vorspielt.«
»Vorspielt?« Dougless betrachtete die Ärmel ihres Gewandes. Das war echtes Gold und kein Dublee. Wie sehr vermißte sie nun einen bis zum Boden reichenden Spiegel. »Was soll ich spielen? Doch nicht etwa ein Instrument! Ich beherrsche keines.«
Honoria war offensichtlich schockiert. »Gibt es in Eurem Land keinen Musikunterricht?«
»Das schon; aber ich habe keinen Musikunterricht genommen.«
»Was lernen die Frauen in Eurem Land denn noch außer Nähen und dem Spielen eines Instrumentes?«
»Algebra, Literatur, Geschichte — solche Sachen. Kannst du denn ein Instrument spielen?
»Aber gewiß doch.«
»Auch singen?«
»Selbstverständlich.«
»Wie wäre es, wenn ich dir ein paar Lieder beibrächte, und du singst und spielst sie dann?«
»Aber Lady Margaret.. .«
»Wird es nicht stören. Ich werde das Orchester dirigieren.«
Honoria lächelte. »Wir sollten dazu in den Garten hinuntergehen.«
Honoria verließ das Zimmer, und Dougless verbrachte noch ein paar Minuten damit, sich ein wenig zu schminken -sehr unauffällig, damit sie nicht gleich wie ein »Flirt-Mädchen« aussah.
Sekunden später kam Honoria mit einer Laute zurück. Ein Mann brachte etwas Brot, Käse und Wein, und dann waren sie schon unterwegs nach draußen.
Nun, wo Dougless nicht mehr befürchten mußte, daß man sie jeden Augenblick in den Burggraben oder auf die Straße werfen würde, sah sie sich aufmerksam um. Da wimmelte es nur so von Leuten: Kinder rannten, mit irgendwelchen Dingen beladen, treppauf und treppab; Männer und Frauen huschten hierhin und dorthin. Einige trugen grobe Leinenoder Wollkleider; andere Seide und Juwelen. Da gab es welche, die mit Pelzen bekleidet waren, andere wieder, die nur ein kleines Fell als Besatz am Hals hatten; Männer, die sich wie Nicholas in gepolsterten Oberschenkelhosen zeigten, und Männer, die in langen Kitteln umherliefen. Ihr fiel auf, daß es durchweg junge Leute waren; aber was Dougless am meisten verwunderte, war deren Größe - sie schienen in dieser Hinsicht den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nachzustehen. Und da hatte sie doch immer
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