Mehr als nur Traeume
gehört, daß im Mittelalter die Leute viel kleiner gewesen seien als in der Neuzeit. Doch sie fand, daß sie mit ihren einhundertsiebenundfünfzig Zentimetern sowohl im zwanzigsten wie im sechzehnten Jahrhundert zu den Kleinen gehörte.
Allerdings schienen die Menschen hier wesentlich schlanker zu sein als ihre Zeitgenossen. Wenn sie immer so viel in Bewegung waren wie jetzt, hatten sie wahrscheinlich gar keine Zeit, Speck anzusetzen.
»Wo ist das Zimmer von Nicholas?« fragte Dougless, und Honoria deutete auf eine geschlossene Tür.
Dougless mußte aufpassen, daß sie mit ihren langen Röcken auf der Treppe nicht ins Stolpern kam; aber es war ein erhebendes Gefühl, sich so kostbar gekleidet den Leuten zeigen zu können.
Sie verließen das Haus durch einen Hinterausgang. Auf dem Weg dorthin konnte Dougless immer wieder einen Blick in wunderschöne Zimmer werfen, in denen Frauen in prächtigen Gewändern sich über einen Stickrahmen beugten. Draußen hielten sie dann auf einer Backsteinterrasse an, die von einer niedrigen Mauer umgeben war, und Dougless bekam einen ersten Eindruck von einem elizabethanischen Garten. Direkt vor ihr, am Fuß einer kurzen Freitreppe, befand sich ein Labyrinth aus sattgrünen Hecken. Zu ihrer Rechten sah sie einen zweiten, von einer Mauer umfriedeten Garten, in dem Gemüse und Kräuter in perfekt abgezirkelten quadratischen Beeten wuchsen. Ein hübsches kleines, achteckiges Gebäude stand in der Mitte der Anlage. Zu ihrer Linken konnte Dougless einen dritten Garten mit Obstbäumen und einem seltsamen Hügel in der Mitte sehen. Auf der Kuppe des Hügels befand sich eine hölzerne Reling.
»Was ist das?« fragte Dougless.
»Ein Aussichtspunkt«, erwiderte Honoria. »Kommt, wir' gehen in den Obstgarten.«
Honoria lief nun vor ihr die Backsteintreppe hinunter, schritt dann auf einem etwas erhöhten Laufgang neben einer mit Kletterrosen bewachsenen Mauer zu einer Eichentür, durch die sie in den Obstgarten gelangten. Dougless fand, daß ihr Gewand zwar ihren Oberkörper beträchtlich einschnürte, sie sich aber von der Taille abwärts ungehindert bewegen konnte. Der Reifrock hielt das Gewicht der Überröcke von ihren Beinen weg, und da sie kein Höschen darunter trug, hatte sie das eigenartige Gefühl, nackt zu sein.
Der Obstgarten war wunderschön, und Dougless war beeindruckt von der Ordnung, die hier herrschte. Alles war symmetrisch angeordnet und von einer mustergültigen Sauberkeit. Da waren, soweit sie sehen konnte, mindestens vier Männer und zwei Kinder damit beschäftigt, zu harken, zu jäten und den Garten so schön wie möglich zu machen. Nun verstand sie, warum sich Nicholas so sehr über den Garten in Bellwood aufgeregt hatte; aber für eine so aufwendige Gartenpflege brauchte man auch eine Menge Arbeitskräfte.
Honoria ging einen Kiesweg am Rande des Gartens hinunter, bis sie zu einem Weinstock kamen. Soweit Dougless sehen konnte, gab es nicht ein welkes Blatt oder einen toten Zweig an diesem Stock, und die noch unreifen Trauben hingen im Überfluß von den Ranken.
»Wie hübsch«, flüsterte Dougless. »Ich habe noch nie so einen schönen Garten gesehen.«
Honoria lächelte, setzte sich auf eine Bank vor einem Birnbaum, der als Spalierobst an der Mauer wuchs, und zog die Laute auf ihren Schoß. »Wollt Ihr mir nun Euer Lied beibringen?«
Dougless setzte sich neben Honoria und wickelte das in ein Tuch eingeschlagene Päckchen auf, das ihr ein Mann zugesteckt hatte. Darin befand sich ein großes Stück Weißbrot, das jedoch nicht mit dem Weißbrot aus einer modernen Bäckerei zu vergleichen war. Es war schwerer, sehr frisch und hatte seltsame Löcher in der Kruste. Es schmeckte köstlich. Der Käse war würzig und ebenfalls frisch. Eine Flasche aus hartem Leder enthielt einen sauer schmeckenden Wein. Ein silberner Becher lag daneben.
»Trinkt hier keiner Wasser?«
»Das Wasser ist schlecht«, sagte Honoria, ihre bauchige Laute stimmend.
»Schlecht? Du meinst, ungenießbar?« Dougless dachte an die kleinen Häuser, die sie gestern gesehen hatte. Wenn diese Leute Zutritt zu einem Wasserreservoir hatten, mußte dieses ja verschmutzt sein. Und sie hatte geglaubt, daß die Verunreinigung des Wassers nur ein Problem des zwanzigsten Jahrhunderts wäre.
Dougless verbrachte zwei herrliche Stunden mit Honoria im Obstgarten. Sie verzehrte das Brot und den Käse, trank dazu den kühlen Wein aus dem Silberbecher, betrachtete die Juwelen an ihrem und Honorias Kleid und sah
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