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Mehr Stadtgeschichten

Mehr Stadtgeschichten

Titel: Mehr Stadtgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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hatte?
    Es war halb zehn, als Michael bei dem alten Mann ein Dos Equis bestellte und sich an einen Tisch am Rand der Terrasse setzte. Er verlor sich für einige Zeit im onyxfarbenen Schimmer der Bucht und im Anblick des riesigen beleuchteten Kreuzes auf der Capilla de la Paz. Auf einem anderen Hügel stach eine Neonwerbung für Pepsi geradezu obszön in die Dunkelheit.
    Einige Leute kamen auf die Terrasse geschlendert. Frauen. Lesben? Ein Mann tauchte auf. Sein Putz bestand aus einer hautengen weißen Hose, mehreren Dutzend Goldkettchen und einer hochglanzgelackten Latin-Lover-Frisur wie aus der Gentleman’s Quarterly. In L.A. wäre er hetero gewesen. Aber hier …?
    Der Mann fing an, alleine zu tanzen, und verdrehte dabei die Augen wie jemand, den beim Vögeln der Schlag getroffen hatte. Seine Bewegungen waren für Michael Beweis genug. Der Mann hatte nicht nur gebrochene Handgelenke; er hatte gebrochene Fußgelenke.
     
    Gegen elf war die Tanzfläche knallvoll. Das Publikum bestand zum größten Teil aus Tunten, obwohl Michael auch eine Clique von Pseudoholzfällern ausmachte, die das Geschehen mit kaum kaschierter Belustigung verfolgten. Michael achtete darauf, nicht mit ihnen in Kontakt zu kommen. Wenn sie aus San Francisco waren, wollte er es gar nicht erst wissen. Er hatte keine Lust, auf einem Hügel in Mexiko jemand kennenzulernen, dem er im Kontaktraum des Jaguar Book Store vielleicht einen geblasen hätte.
    Ein Mann forderte ihn zum Tanzen auf. Michael nahm an, obwohl es ihm ein bißchen peinlich war und er sich unaufrichtig vorkam. Er wollte gar nicht tanzen. Er wollte im Arm gehalten werden.
    »Erstes Mal hier?« fragte sein Tanzpartner, der halbherzig Shimmy tanzte. Er war Mexikaner.
    »Ja«, antwortete Michael. Er bemühte sich, kein gebrochenes Englisch zu sprechen. Das tat er sonst meistens, wenn er es mit Ausländern zu tun bekam.
    »Du unglücklich, glaube ich?«
    Michael versuchte zu lächeln. »Entschuldige. Ich …«
    »Ist okay. Manchmal … ich auch.«
    Verdammt, dachte Michael. Sei nicht nett zu mir. Wenn du nett zu mir bist, heule ich dich noch voll. »Meistens bin ich ja glücklich, aber manchmal …« Michael gab alle Erklärungsversuche auf und verfiel statt dessen auf einen Klischeespruch, der ihm in einer kalifornischen Kneipe nie über die Lippen gekommen wäre: »Bist du öfter hier?«
    Als die Antwort kam, hörte Michael nur halb hin.
    Sein Blick klebte an dem Bogengang, von dem aus ein großer blonder Mann im weißen Leinenanzug die Tanzfläche betrachtete. Aus uralter Gewohnheit machte Michael ihn für den Bruchteil einer Sekunde an, ließ es aber so abrupt wieder sein wie ein Hund, der nach seinem eigenen Schwanz geschnappt hat.
    Der Mann war Jon Fielding.

Spielchen
    Es gab Zeiten, da war Brian überzeugt, daß sie ihm folgte.
    Seine Phantasie beschwor sie an den merkwürdigsten Orten herauf: in Waschcentern, auf überfüllten Cable Cars und leeren Rolltreppen, und wenn er mit Kolumbianer vollgedröhnt war, dann auch in dunklen Kinos.
    Am Anfang stand meistens ein Blick. Ein Beäugen hinter schweren Lidern hervor. Ein vertrauliches Zwinkern. Ein langsam sich ausbreitendes Grinsen, das ihn von Kopf bis Fuß entflammte. Natürlich war er mit diesen Zeichen vertraut, aber früher hatten sie für etwas anderes gestanden.
    Früher hatten sie für eine Eroberung gestanden, für seine Eroberung, für ein einfaches, unkompliziertes Abenteuer, das er von Anfang bis Ende unter Kontrolle gehabt hatte.
    Aber jetzt …
    Jetzt konnte es eine Frau sein, die wußte, daß er ihr verfallen war.
    Jetzt konnte es Lady Eleven sein.
    Und sie konnte diejenige sein, die alles unter Kontrolle hatte.
    Die Frage, die ihn quälte, blieb immer gleich: Wenn sie wußte, wer er war, wenn sie wußte, wo sie ihn finden konnte … Warum tat sie dann nichts, um mit ihm zusammenzukommen?
    Klar, sie konnte es versucht haben. Vielleicht war sie genauso vor der Barbary Lane 28 gewesen wie er vor dem Superman Building. Er hielt sich vor Augen, daß sein Name noch nie auf dem Briefkasten gestanden hatte.
    Trotzdem, sie hätte ja fragen können. Mrs. Madrigal hätte ihr Auskunft gegeben, Herrgott noch mal! Vielleicht hatte Mrs. Madrigal mit ihr gesprochen und dann vergessen, ihm zu sagen, daß …
    Andererseits konnte etwas mit ihr sein. Etwas Schlimmes. Vielleicht hatte sie Angst, daß er sie kennenlernte und dabei feststellte, daß sie … nun, daß sie was war? Behindert? Geisteskrank? Blind? Genau, Brian. Blinde

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