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dauernd Small talk mit ihm. Das war alles andere als normal, und Mary Ann litt darunter, daß sie in dieser Krisensituation nichts tun konnte.
»Mouse«, sagte sie sanft, als sie am Lafayette Park vorbeifuhren, »wenn du mir die Telefonnummer deiner Eltern sagst, dann ruf ich sie an, sobald wir im Krankenhaus ankommen.«
Er zögerte mit seiner Antwort. »Nein … Es ist mir lieber, wenn du sie nicht anrufst.«
»Aber Mouse, meinst du nicht, daß sie es erfahren …«
»Nein, das glaube ich nicht.«
Jon beugte sich vor und strich ihm über den Kopf. »Michael, ich finde, daß deine Familie ein Recht …«
»Ihr seid meine Familie«, sagte Michael.
Mary Ann und Burke setzten sich schweigend in den Warteraum, während Jon Michael in die Notaufnahme begleitete. Zwanzig Minuten später meldete er sich bei den beiden zurück.
»Sie werden eine Spinalpunktion machen«, eröffnete er ihnen.
Mary Ann spielte an der McCall’s herum, die sie auf dem Schoß hatte. »Jon … Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
»Das ist ein Lendenstich. Sie untersuchen auf eine eventuelle Erhöhung des Eiweißspiegels hin und auf … eine Verringerung der Anzahl der weißen Blutkörperchen in …« Der Doktor schaute seine Freunde kaum an. »Sie glauben, daß es Guillain-Barré ist.«
Diesmal griff Burke ein. »Jon … was heißt das übersetzt?«
»Entschuldigt. Erinnert ihr euch an die Leute, die nach einer Schweinegrippeimpfung gelähmt waren?«
Burke schüttelte den Kopf.
»Ich schon«, sagte Mary Ann.
»Na ja, das war das Guillain-Barré-Syndrom. Ich meine, das Syndrom hat die Lähmung hervorgerufen.«
Mary Ann runzelte die Stirn. »Aber … ich glaube nicht, daß Michael je gegen Schweinegrippe geimpft worden ist.«
»Das ist auch nur einer der Auslöser. Was die Ursache ist, weiß man eigentlich gar nicht.«
»Aber … was macht das Syndrom denn?«
»Es ist eine zunehmende Lähmung. Sie fängt normalerweise in den Füßen und den Beinen an, und dann … Na ja, sie steigt dann höher.« Er schaute auf seine Hände und drückte die Fingerspitzen mehrmals sachte gegeneinander. »Aber oft verschwindet sie auch wieder ganz.«
»Jon, er wird doch nicht …?«
»Die einzige echte Gefahr besteht für das Atmungssystem. Wenn die Lähmung so weit voranschreitet, daß sie die Atmung behindert, muß ein Luftröhrenschnitt gemacht werden, um …« Er hob die Hände vors Gesicht und drückte die Fingerspitzen gegen die Augen. Mary Ann dachte einen Augenblick lang, er würde anfangen zu weinen, doch sein Gesicht behielt den maskenhaften Ausdruck, den es davor schon gehabt hatte. »Der arme kleine Lausbub«, sagte er leise.
Mary Ann widerstand dem Drang, ihn zu berühren, ihn zu streicheln. Er wirkte wie ein Mensch kurz vor dem Zerreißen. »Jon, wird er auch nicht …? Haben die Ärzte …?«
»Scheiß auf die Ärzte!«
»Was … haben sie dir gesagt?«
»Nichts! Rein gar nichts!« Seine Wut ließ Mary Ann zusammenzucken. Jon legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Ich halte es für möglich, daß er stirbt, Mary Ann. Wir müssen uns darauf gefaßt machen.«
Pinus von innen
Die lange Fahrt hinauf zu Pinus war vor einem beeindruk kenden Stahltor abrupt zu Ende. Helena Parrish hielt den Mercedes an und redete in eine Gegensprechanlage. »Einen Cheeseburger, eine Portion Pommes und einen Schoko-Shake – aber dalli.«
Lachen. Das Lachen eines jungen Mannes. »Mrs. Parrish … Sie sind wieder da!«
»Ich war sechs ganze Stunden weg. Hab ich dir gefehlt, Bluegrass?«
»Ist der Papst katholisch?«
»Du bist süß. Mach auf, Blue. Ich bringe euch die neue Frau.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort!«
Das Tor schwang auf. Helena lächelte Frannie zu, als sie den Wagen über eine weitere von Bäumen gesäumte Straße lenkte. »Bluegrass wird dir gefallen«, sagte sie mit einem Zwinkern. »Unter normalen Umständen ist er für mich reserviert, aber … Na ja, ich mag dich, Frannie. Und deshalb sollst du ihn bekommen.«
»Helena! Das kann ich nicht an …!«
»Doch … Bitte. Ich möchte es so. Wirklich.«
»Du bist ein Schatz.«
»Quatsch.«
»Meine Güte, ich fühle mich so … Ich fühle mich einfach fabelhaft.«
Die Gastgeberin lächelte. »Wir sind jetzt drin. Du kannst janen, wenn du willst.«
»Was kann ich?«
»Schreien. Wir hier nennen es janen – so wie bei ›Ich Tarzan, du Jane‹. Es ist eine Art Tarzanschrei für Frauen. Es hat was von Urschreitherapie, aber es macht entschieden mehr Spaß.
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