Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Bishop’s über die Maßen, doch er war als Gast viel kühner und fantasievoller, als ich es je hätte werden können. Gern schaltete er die Tischlampe ein und schickte die Kellnerinnen mit seltsamen Bitten los.
»Kann ich bitte einen Angosturabitter haben?«, sagte er zum Beispiel mit der Unschuldsmiene eines Chorknaben. Oder: »Bitte, kann ich ein paar neue Eiswürfel haben, diese sind doch sehr missraten.« Oder: »Haben Sie ganz eventuell eine Schöpfkelle und eine Zange übrig?« Und dann stapfte die Kellnerin von dannen und sah nach, was sie für ihn tun konnte. Irgendetwas in seinem fröhlichen Gesicht brachte andere dazu, ihm immer gern einen Gefallen zu tun.
Ein anderes Mal zog er mit einem gewissen theatralischen Schwung ein adrett gefaltetes weißes Taschentuch aus der Tasche, dem er einen perfekt konservierten, großen, schwarzen, flachen, potthässlichen Hirschkäfer mit Zangen entnahm – in Iowa hießen diese Viecher Junikäfer. Er ließ ihn in seiner Tomatensuppe zu Wasser. Der Käfer trieb wunderschön auf der Suppe. Man konnte fast auf den Gedanken kommen, er sei zu diesem Zwecke geschaffen worden.
Dann schaltete Willoughby die Tischlampe ein. Eine Kellnerin kam, erspähte den Käfer, ließ kreischend ein leeres Tablett fallen und holte den Restaurantleiter, der herbeihastete. Er gehörte zu den Leuten, die ständig so gestresst sind, dass selbst ihre Haare und ihre Kleidung unter Hochspannung stehen. Er sah aus, als sei er gerade einem Windkanal entstiegen. Als er das schwimmende Insekt erblickte, stürzte er sich sofort in einen Nervenzusammenbruch.
»Ach, du meine Güte«, sagte er. »Ach, du meine Güte, meine Güte. Ich weiß nicht, wie das passieren kann. Es ist noch nie passiert. Ach, du meine Güte. Es tut mir schrecklich leid.« Schwungvoll entfernte er den Stein des Anstoßes, den Suppenteller, vom Tisch und hielt ihn auf Armeslänge von sich, als sei er hochgradig ansteckend. Zu der Kellnerin sagte er: »Mildred, servieren Sie diesen jungen Männern, was sie wollen – wirklich, was sie wollen« und zu uns: »Wie wär’s mit ein paar Schokokaramellbechern? Wäre die Angelegenheit damit für euch aus der Welt geschafft?«
»O ja!«, antworteten wir.
Er schnipste mit den Fingern und schickte Mildred fort, damit sie uns die Schokokaramellbecher holte. »Mit ganz viel Nüssen und Extrakirschen«, rief er. »Und vergessen Sie die Schlagsahne nicht.« Dann wandte er sich, wieder selbstsicherer, an uns. »Also, Jungs, ihr werdet das ja wohl niemandem weitererzählen, was?«
Wir versprachen es.
»Was machen eure Eltern?«
»Mein Vater ist beim Gesundheitsamt«, sagte Willoughby frohgemut.
»Ach, du lieber Gott«, sagte der Mann, und diesmal wich alles Blut aus seinem Gesicht. Dann enteilte er, um sicherzustellen, dass unsere Schokokaramellbecher auch wirklich die größten und üppigsten waren, die man je bei Bishop’s serviert hatte.
Am nächsten Samstag ging Willoughby wieder mit mir zu Bishop’s. Diesmal trank er die Hälfte seines Wassers, zog dann ein Glas mit Wasser aus einem Teich aus der Jacke und füllte damit sein Glas auf. Als er das Glas ans Licht hielt, schwammen ungefähr 16 Kaulquappen darin herum.
»Entschuldigung, war das mit meinem Wasser so gemeint?«, rief er einer vorbeieilenden Kellnerin zu, die wie gebannt sein Glas anstarrte und dann ging, um sich Verstärkung zu holen. Binnen einer Minute untersuchte ein halbes Dutzend bestürzter Kellnerinnen das Wasser, kreischte aber nicht. Einen Moment später tauchte unser Freund, der Restaurantchef, auf.
Er hielt das Glas in die Höhe. »Ach, du meine Güte«, sagte er und wurde blass. »Es tut mir schrecklich leid. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. So etwas ist noch nie passiert.« Dann schaute er Willoughby genauer an. »Sag mal, warst du nicht letzte Woche hier?«
Willoughby nickte, als wolle er sich entschuldigen.
Ich dachte, der Restaurantleiter würde uns nun an den Ohren hinauszerren, doch der gute Mann sagte: »Also, ich kann nur noch einmal sagen, wie leid es mir tut, mein Sohn. Ich kann mich gar nicht genug entschuldigen.« Dann wandte er sich an die Kellnerinnen. »Auf diesem jungen Mann liegt offenbar ein Fluch.« Zu uns sagte er: »Na, dann hole ich euch mal eure Schokokaramellbecher.« Und ging in die Küche, nicht ohne sich unterwegs hier und dort zu verneigen und dabei diskret das Wasser der anderen Gäste zu betrachten.
An einem mangelte es Willoughby freilich immer: dem Sinn für das
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