Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
zu randalieren.
Vor der Vorstellung kam der Kinobetreiber, fast immer ein schlechtgelaunter Glatzkopf mit Fliege und sehr rotem Gesicht, auf die Bühne und verkündete drohend, dass jedes Kind – ausnahmslos jedes –, das beim Bonbonwerfen oder beim Versuch, Bonbons zu werfen, erwischt würde, am Schlafittchen gepackt und in die wartenden Arme der Polizei abgeführt würde. »Ich beobachte euch alle, und ich weiß, wo ihr wohnt«, sagte der Mann immer und richtete einen letzten bösen, drohenden Blick auf uns. Dann verloschen langsam die Lichter, und bis zu 20 000 Bonbons flogen durch die Luft und regneten auf ihn und die Bühne herab.
Manchmal war der Film so beliebt oder der Kinobetreiber so unbedarft und naiv, dass die Ränge geöffnet wurden, womit 1000 und mehr überglückliche Kids die Gelegenheit bekamen, nasse und klebrige Substanzen auf die wehrlosen Horden unter ihnen zu kippen. Einmal wurde die Leitung des Paramount Theater einem tragisch netten jungen Mann übertragen, der in seinem Berufsleben noch nie mit Kindern zu tun gehabt hatte. Er führte eine Pause ein, in der Kinder, die Geburtstag hatten, eine Karte ausfüllen konnten, und dann auf die Bühne gerufen wurden, wo sie sich aus einer großen Kiste ein Spielzeug, eine Schachtel Konfekt oder einen Geschenkgutschein angeln durften. In der zweiten Woche hatten 11000 Kinder Geburtstagskarten ausgefüllt. Viele machten unter jeweils leicht modifizierten Identitäten sieben oder acht Trips zur Bühne. Sowohl der junge Mann als auch die Gratisgeschenke waren nach drei Wochen verschwunden.
Doch selbst, wenn die Matineen normal durchgeführt wurden, waren sie ökonomisch unsinnig. Jedes Kind gab 35 Cents für den Eintritt und dann noch einmal 35 für ein Getränk und Süßigkeiten aus, verursachte aber 4,25 Dollar an Kosten für Reparaturen, Reinigung und Kaumgummientfernen. Die Matineen fanden dann auch in immer wieder anderen Kinos statt – im Varsity, Orpheum, Holiday oder Hiland –, weil die Betreiber irgendwann entnervt aufgaben oder die Stadt verließen.
Hin und wieder verteilten die Filmstudios oder ein Sponsor an der Eingangstür Geschenke. Da waren sie fast immer schlecht beraten. Bei der Premiere von Die Vögel gab das Orpheum an die ersten 500 Kinobesucher Einpfundtüten mit Vogelfutter. Können Sie sich vorstellen, Vogelfutter an 500 Kinder zu verschenken, die gleich ohne Aufsicht in einem dunklen Saal sind? Eine wenig bekannte Tatsache über Vogelfutter ist nämlich, dass die Körner, in Coca-Cola eingeweicht und durch einen Strohhalm ausgespien, mit Geschwindigkeiten bis zu 1 Mach 60 Meter weit fliegen können und wie Leim an allem festkleben – Wänden, Decken, Kinoleinwänden, weichem Stoff, kreischenden Platzanweiserinnen, Rücken und Hinterkopf des Kinobetreibers, an allem.
Wenn die Filme schlecht waren, ging die echte Action draußen im Foyer ab, und niemand saß dann lange still. Ungefähr alle halbe Stunde oder öfter (wenn auf der Leinwand keiner mit einem Pfahl im Auge oder einem Beil im Schädel herumtaumelte), stand man auf und schaute nach, ob in den öffentlichen Bereichen des Kinos etwas war, das zu erkunden sich lohnte. Zusätzlich zu den Verkaufsständen im Foyer gab es zum Beispiel häufig noch Verkaufsautomaten in dunklen unbewachten Ecken, und die waren immer genaueres Hinsehen wert. Allgemein war man der Überzeugung, dass sich direkt über der Stelle, wo die Becher herausplumpsten oder die Schokoriegel herausglitten – gerade außer Reichweite, doch verführerisch nahe –, mehrere kleine Hebel und Schalter befanden, die man nur in Bewegung zu setzen brauchte, und schon würden alle Süßigkeiten auf einmal herauspoltern. Womöglich wurde auch noch der Wechselgeldmechanismus aktiviert und dann eine Kaskade silberner Münzen ausgespuckt. Doug Willoughby brachte einmal eine kleine Taschenlampe und einen Spiegel mit gebogenem Stiel, wie ihn Zahnärzte benutzen, mit, schaute sich in den Innereien eines Verkaufsautomaten im Orpheum gründlich um und war forthin sicher, wenn er jemanden mit ausreichend langen Armen fände, könnte er sich den Automaten zu Diensten machen.
Stellen Sie sich seine entzückte Miene vor, als ihm eines Tages jemand einen Jungen anschleppte, der zwei Meter zehn groß war, 40 Pfund wog und Arme wie Gartenschläuche hatte. Am allerbesten: Er war doof und brav. Angespornt von einer Zuschauerschar, die rasch zu einer zweihundertköpfigen Menge anwuchs, kniete sich der Junge gehorsam hin, steckte
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