Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
alten Baumstumpf im Garten hinter ihrem Haus und richteten es auf eine etwa 4,50 Meter entfernte Sperrholzplatte. Dann hielten sie ein brennendes Streichholz an die Zündschnur, und wir zogen uns alle auf eine sichere Position hinter einem Picknicktisch zurück (immerhin konnte das ganze Ding ja auch explodieren). Während wir zuschauten, brachte die brennende Lunte irgendwie das Rohr aus dem Gleichgewicht, es rollte langsam über den Baumstumpf und war nun nicht mehr auf das Sperrholz gerichtet. Doch bevor wir reagieren konnten, ging die Kanone mit einem mächtigen Krachen los und sprengte die Scheiben aus einem Badezimmerfenster im ersten Stock drei Häuser weiter. Niemand wurde verletzt, doch Willoughby bekam einen Monat Hausarrest – er hatte meist Hausarrest – und musste 65 Dollar Schadenersatz zahlen.
Die Willoughby-Jungs konnten wirklich aus nichts etwas Unterhaltsames schaffen. Bei meinem ersten Besuch machten sie mich mit der aufregenden Sportart »Streichholzkampf« bekannt. Bei diesem Spiel bewaffneten sich die Kontrahenten mit vielen Schachteln Haushaltszündhölzern, gingen in den Keller, schalteten alle Lampen aus und verbrachten den Rest des Abends damit, sich im Dunkeln gegenseitig mit angezündeten Streichhölzern zu bewerfen.
Damals waren Haushaltzündhölzer robuste Dinger – eher wie Leuchtraketen und nicht so wie die schmächtigen Hölzlein, die man heute bekommt. Man konnte sie an jeder harten Fläche reiben und mindestens fünf Meter weit schleudern, ohne dass sie ausgingen. Ja, selbst wenn sie sich vorn auf dem Pullover festgesetzt hatten und man energisch mit beiden Händen darauf einschlug, schienen sie wild entschlossen, nicht auszugehen. Unser Ziel war ohnehin, die Streichhölzer auf den Gegnern landen zu lassen und auf Teilen ihres Körpers kleine, alarmierende Buschfeuer zu entfachen. Haare waren ein besonders beliebtes Ziel. Nachteilig war, dass man jedes Mal, wenn man ein angezündetes Streichholz abwarf, seine eigene Position allen denen verriet, die neben einem in der Dunkelheit lauerten. Nach einer ausgeführten Attacke musste man eigentlich immer damit rechnen, dass die eigene Schulter lichterloh brannte oder mitten auf dem Kopf ein Leuchtfeuer loderte, dessen Flammen sich von einem rasch abnehmenden Bestand an Haaren ernährten.
Nachdem wir an einem Abend drei Stunden lang gespielt hatten und dann das Licht anmachten, entdeckten wir, dass wir uns alle mehrere lustige, kahle Stellen eingefangen hatten. Allerbester Laune gingen wir zur Dairy Queen auf der Ingersoll Avenue, um frische Luft zu schnappen und eine Erfrischung zu uns zu nehmen. Als wir zurückkamen, standen zwei Feuerwehrwagen vor dem Haus und Mr. Willoughby hüpfte extrem aufgekratzt einher. Offenbar hatten wir ein Streichholz in einem Schmutzwäschekorb brennen lassen, und es hatte sich ein Feuer entwickelt, das an der hinteren Wand hochgekrochen, ein paar Balken angekokelt und einen Großteil des Hauses darüber mit Rauch erfüllt hatte. Ein Trupp begeisterter Feuerwehrleute hatte dem Ganzen dann reichlich Wasser zugesetzt, von dem nun viel zur Hintertür hinausfloss.
»Was habt ihr da unten gemacht?«, fragte Mr. Willoughby voller Staunen und Verzweiflung. »Auf dem Boden haben bestimmt 800 abgebrannte Streichhölzer gelegen. Der Branddirektor will mich wegen Brandstiftung festnehmen. In meinem eigenen Haus! Was habt ihr gemacht?«
Willoughby kriegte diesmal sechs Wochen Hausarrest, und wir mussten unsere Freundschaft zeitweilig auf Eis legen. Aber das war nicht so schlimm, weil ich mich zufällig zu der Zeit mit einem anderen Schulkameraden namens Jed Mattes angefreundet hatte, der einen krassen Gegensatz zu Willoughby bildete: Jed war schwul oder würde es zumindest bald sein.
Er hatte Charme und Geschmack und untadelige Manieren und durch ihn lernte ich eine kultiviertere Seite des Lebens kennen – Reisen, gutes Essen, schöne Literatur, Inneneinrichtungen, für mich etwas angenehm und vollkommen Neues. Jeds Großmutter wohnte im Commodore Hotel auf der Grand Avenue, was sehr exotisch war. Sie war über 1000 Jahre alt und wog 37 Pfund, einschließlich der 16 Pfund Make-up. Sie gab uns immer Geld fürs Kino, manchmal riesige Summen wie 40 oder 50 Dollar, womit man sich Anfang der sechziger Jahre einen sehr schönen Tag machen konnte. Jed wollte nie in Filme wie Attack of the 50-Foot Woman gehen. Er ging lieber in Musicalfilme wie Goldgräber-Molly oder My Fair Lady . Ich kann nicht sagen, dass das meine
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