Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
unbedacht an der Wange und wurde im nächsten Moment frontal vom Ball im Gesicht getroffen. Die Vorderseite seines Kopfes wurde vollkommen eingedellt. Man musste eine Saugpumpe benutzen, um ihn wieder herzurichten. Jedenfalls wurde mir das berichtet.
Die schwarzen Jungs waren hart im Nehmen und Geben. Einmal sah ich, wie ein überfütterter, weißer Tolpatsch namens Dwayne Durdle so dumm war, einen kleinen schwarzen Jungen mit Namen Tyrone Morris in der Schlange in der Cafeteria zu hänseln. Ja, er hörte gar nicht damit auf. Als Tyrone irgendwann dann doch die Nase voll hatte, drehte er sich mit einer Miene der Verdrossenheit und traurigen Ärgers um und verpasste Durdle eine derart schnelle Serie Schläge in sein schwammiges Gesicht, dass man Tyrones Hände gar nicht sehen konnte. Man hörte nur ein flatschiges »Flabba-da-dabba« und das »Pling« von Zähnen, die von Wänden und Heizkörpern abprallten. Als Durdle mit glasigen Augen glucksend in die Knie sackte, schob Tyrone seinen Arm in dessen Schlund, packte etwas ganz tief drinnen und stülpte ihn von innen nach außen um.
»Verdammter Idiot, Mutha-fuckah «, sagte Tyrone immer noch erstaunt und bestürzt, als er wieder nach seinem Tablett griff und zu den Desserts weiterging.
Offene Aggressionen zwischen Schwarzen und Weißen gab es aber an der Callanan so gut wie keine. Die schwarzen Schüler waren fast ausnahmslos ärmer als wir, doch ansonsten waren wir in fast allen Belangen gleich. Sie kamen aus anständigen, hart arbeitenden Familien. Ihre Stimmen klangen genauso wie unsere, sie kauften in denselben Läden ein, trugen die gleichen Klamotten, gingen in die gleichen Filme. Wir waren Jugendliche, und damit hatte es sich. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich außer der Bitte meiner Großmutter um Niggerbabys bei Bishop’s in meiner gesamten Jugend eine einzige rassistische Bemerkung gehört habe.
Ich will nicht so tun, als merkten wir nicht, dass schwarze Jungs schwarz waren, aber es kam einem Nicht-Bemerken so nahe, wie es nur geht. Mit anderen ethnischen Gruppen verhielt es sich im Grunde genauso. Als ich einem meiner Freunde aus Kindertagen vor einigen Jahren ein Pseudonym geben musste, nahm ich Stephen Katz, zum Teil zu Ehren eines Drugstores in Des Moines, der Katz’s hieß und in meiner Kindheit so etwas wie eine lokale Institution gewesen war, und zum Teil, weil ich einen kurzen, schnell zu tippenden Namen wollte. Mir wäre niemals aufgefallen, dass der Name jüdisch ist. Ich dachte an niemanden in Des Moines als »jüdisch« (und meines Wissens sonst auch keiner). Selbst wenn die Leute Wasserstein und Liebowitz hießen, war es immer eine Überraschung, wenn man erfuhr, sie seien jüdisch. Des Moines war keine sonderlich »ethnische« Stadt.
Und Katz war kein Jude. Er war katholisch. Ich habe ihn an der Callanan kennen gelernt, als Doug Willoughby ihn für die gezielte Übernahme des Audio-Visual-Clubs der Schule rekrutierte – ein raffinierter, ungewöhnlicher Schachzug und wieder mal ein schlagender Beweis für Willoughbys Genialität. Die Clubmitglieder verwalteten das riesige Lager an Unterrichtsfilmen und führten sie auch vor. Immer wenn ein Lehrer einen Film zeigen wollte – und manche Lehrer machten kaum was anderes, weil sie dann nicht unterrichten, ja, nicht einmal viel Zeit im Klassenzimmer verbringen mussten –, rollte ein Mitglied des AV-Eliteteams ein Vorführgerät in den betreffenden Klassenraum, fädelte und schlang den Film fachmännisch durch ein halbes Dutzend Spulen und zeigte das erwünschte Bildungsangebot.
Traditionell war der AV-Club, wie nicht anders zu erwarten, die Domäne der schrägsten Schüler der Schule, doch Willoughby sah sofort, welche Vorteile der Club auch normalen Leuten bot. Zum einen kam man in den Besitz eines Schlüssels zu dem einzigen abschließbaren Raum im Schulgebäude, zu dem Schüler Zugang hatten und in dem wir rauchen konnten, wenn Willoughby erst mal das Lüftungsproblem gelöst hatte (was ihm prompt gelang). Des Weiteren hatte man Zugriff auf einen enormen Filmbestand, einschließlich sämtlicher Sexualerziehungsfilme, die, grob geschätzt, zwischen 1938 und 1958 gedreht worden waren. Schließlich und hauptsächlich hatte man stets eine gute Ausrede, um sich während des Unterrichts frei in den leeren Fluren der Callanan zu bewegen. Stellte uns ein Lehrer, wenn wir durch die glänzenden Flure wanderten (und was sind Schulflure für eine herrliche, entspannende, privilegierte
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