Mein Auge ruht auf dir - Thriller
sich auf den Abend vorzubereiten.
Die vier Personen, denen er mit hoher Wahrscheinlichkeit das Pergament gezeigt hat, werden am Tisch meines Vaters versammelt sein, überlegte sie. Charles und Albert haben mich schon gefragt, ob ich es gefunden habe. Greg hat mir beim Essen gesagt, Dad habe mit ihm darüber gesprochen, es ihm aber nicht gezeigt. Und Richard hat es mir gegenüber bislang noch gar nicht erwähnt.
Nun, heute Abend werden wir nicht darum herumkommen, darüber zu reden.
Mariah beschleunigte ihre Schritte und versuchte, ihre völlig verkrampften Glieder zu lockern. Als sie wieder zu Hause war, teilte Betty ihr mit, dass in ihrer Anwesenheit niemand angerufen habe. Erneut telefonierte sie mit dem Krankenhaus, wo man ihr im Grunde das Gleiche sagte wie am Morgen. Ihre Mutter sei ruhig und frage nicht nach ihr.
Es wurde Zeit, sich umzuziehen. In Anbetracht der kühleren Temperaturen entschied sie sich für eine langärmelige weiße Seidenbluse und eine schwarze, weit ausgestellte Seidenhose. Aus einem Impuls heraus beschloss sie, die Haare offen zu tragen.
Greg traf als Erster ein. Sie hatte kaum die Tür geöffnet, als er sie auch schon in die Arme schloss. Am Samstagabend hatte er sie bei der Verabschiedung kurz und zögerlich auf die Lippen geküsst. Jetzt hielt er sie fest und strich ihr durch die Haare. »Mariah, hast du irgendeine Vorstellung, was ich für dich empfinde?«
Als sich Mariah von ihm löste, ließ er sie sofort los. Sanft berührte sie sein Gesicht. »Greg, es bedeutet mir sehr viel. Es ist nur, na ja … Du weißt ja, was hier alles los ist. Dad ist vor gerade mal acht Tagen ermordet worden. Meine Mutter ist in der Psychiatrie eingesperrt. Ich bin das einzige Kind, und solange dieser Albtraum nicht vorbei ist, kann ich kaum an mein eigenes Leben denken.«
»Das sollst du auch gar nicht«, sagte er entschieden. »Ich verstehe das vollkommen. Aber du solltest wissen, falls du irgendetwas brauchst, egal was, egal wann, werde ich dafür sorgen, dass du es bekommst.« Greg stockte, als müsste er tief Luft holen. »Mariah, ich sage es jetzt und werde dich dann nicht mehr damit belästigen, solange du das alles hier durchmachen musst. Ich liebe dich und will immer für dich da sein. Zuerst aber möchte ich dir helfen. Sollten die Psychiater im Krankenhaus nicht das richtige Ergebnis vorlegen, werde ich die besten Experten des Landes anheuern. Ich bin überzeugt, die von mir engagierten Ärzte werden zu dem Schluss kommen, dass deine Mutter im fortgeschrittenen Stadium an Alzheimer leidet, nicht vernehmungsfähig ist und unter angemessener Aufsicht keinerlei Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weshalb man sie nach Hause entlassen muss.«
Wie immer waren Albert und Charles zusammen in Charles’ Wagen angereist, und jetzt – Greg hatte kaum seinen Satz beendet – klingelten sie an der Tür.
Mariah war dankbar für die Unterbrechung. Sie hatte immer von Gregs Zuneigung gewusst, wie weit sie aber ging, wurde ihr erst jetzt klar. Sosehr sie sein Hilfsangebot zu schätzen wusste, durch seine Leidenschaftlichkeit fühlte sie sich auch stark unter Druck gesetzt. Erst in den vergangenen Tagen hatte sie erkannt, wie sehr die zunehmende Erkrankung ihrer Mutter und die zerrüttete Beziehung zu ihrem Vater sie in den letzten Jahren emotional ausgelaugt hatten.
Ich bin achtundzwanzig, dachte sie. Seit meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr mache ich mir schreck liche Sorgen um Mom, dazu kommt noch, dass ich mich in den letzten eineinhalb Jahren von meinem Vater entfremdet habe. Wie sehr wünschte ich mir, ich hätte einen Bruder oder eine Schwester, mit denen ich alles hätte teilen können. Eines aber weiß ich: Ich muss Mom nach Hause holen und sie in die kompetenten Hände einer guten Krankenpflegerin geben. Und dann brauche ich Zeit für mich, um mich um mein eigenes Leben zu kümmern.
Das alles ging ihr durch den Kopf, als sie Albert und Charles begrüßte. Sofort spürte sie, dass eine gewisse Spannung zwischen ihnen lag. Charles hatte wie immer die Stirn gerunzelt, nur wirkte er diesmal noch finsterer als sonst. Und Albert, gewöhnlich von heiterer Natur, schien von Sorgen geplagt. Eilig wies Mariah die beiden zusammen mit Greg ins Wohnzimmer, wo Betty bereits eine Platte mit warmen und kalten Vorspeisen hergerichtet hatte. Früher hatte es zum gewohnten Ablauf gehört, vor dem Essen im Arbeitszimmer ihres Vaters einen Cocktail zu trinken. Sicherlich würden alle verstehen, warum das
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