Mein Bild sagt mehr als deine Worte
Mädchenstimme: »Störe ich?«
»Hallo, Miranda«, sagte Jack und hörte sich erleichtert an.
Ich wusste nicht, ob ich Hallo sagen sollte oder nicht. Miranda Lee zählte nicht zu den Leuten, zu denen ich normalerweise Hallo sagte. Sie war zu mir nie fies oder nett oder irgendetwas gewesen. Wir hatten einfach keinerlei Berührungspunkte. Sie war ein Jahr jünger als wir und machte viel Sport, so hatte Jack sie wahrscheinlich auch kennengelernt.
»Hallo«, sagte sie zu uns beiden. »Was macht ihr denn da?«
Ich hatte immer noch die Fotos in der Hand und steckte sie hastig in meinen Rucksack.
»Evan hat mir gerade ein paar Fotos gezeigt«, antwortete Jack, ohne zu zögern und über dich einen Mantel des Schweigens breitend . »Er arbeitet an einem Projekt. Es ist ziemlich cool.«
»Cool«, sagte Miranda wie ein Echo.
»Ja, danke«, sagte ich. »Jedenfalls danke, dass du einen Blick drauf geworfen hast, Jack. Na, dann verdrück ich mich mal. Ich meine, ich wollte sowieso gerade gehen. Das hat nichts mit dir zu tun, Miranda. Nicht dass du das etwa denkst.«
»Gut, okay«, sagte Miranda. Und es klang nicht sarkastisch. Wenn ich zu dir etwas in der Art gesagt hätte, wäre deine Reaktion gnadenlos gewesen. Mit hilflosem Gestammel konntest du gar nichts anfangen.
Bis zum Unterricht war es noch eine Viertelstunde. Ich wanderte durch die Gänge und hielt nach der Knipserin Ausschau. Ich sah Mädchen mit ganz ähnlichen Haaren oder in ganz ähnlichen Klamotten oder mit ganz ähnlichen Gesichtszügen, aber nie alles auf einmal. Entweder war sie nicht an unserer Schule oder sie versteckte sich oder ich sah nicht richtig hin.
Keine Ahnung, was davon.
12 A
Als ich durch die Korridore ging, dachte ich an dich. Ich überlegte, was du wohl von unserer Schule gehalten hast. Das Gebäude. War es für dich ein Schutz gegen alles andere gewesen? Warst du hier glücklich? Oder war es für dich so etwas wie ein Gefängnis, ein Ort, an dem du dich vom Gewicht all der Steine, all der Menschen, all der Gedanken erdrückt gefühlt hast?
Wenn ich nur gewusst hätte, was mit dir nicht gestimmt hat.
Ich wüsste immer noch gern, was mit dir nicht gestimmt hat.
12 B
Beim Mittagessen schon wieder ein Foto herumzureichen, ging nicht. Ich hatte ja erst gestern alle am Tisch nach Sparrow gelöchert. Deshalb beschloss ich, noch zu warten.
Aber dann brachte Fiona das Thema auf.
»Hast du Mr Irokese gefunden?«, fragte sie.
»Ich glaub, er ist aus Kalifornien«, murmelte ich.
»Du hast deine Detektive bis nach Kalifornien geschickt?«, witzelte Charlie.
»Ich hab ihn im Internet gefunden.«
Damit hätte das Thema eigentlich erledigt sein können. War es auch für alle – außer für Fiona.
»Und wer ist er?«, fragte sie.
»Ist nicht wichtig«, sagte ich und stand auf. »Ich muss unbedingt noch in die Bibliothek. Hätte ich fast vergessen.«
Fiona warf einen Blick auf mein Tablett. »Du hast ja gar nichts gegessen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Hab keinen Hunger.«
12 C
Aber wenn ich ehrlich war: Ich hatte Hunger. Und ich erinnerte mich an etwas, das du gesagt hattest. Nicht an dem letzten Tag im Wald, sondern ungefähr drei Tage vorher. Alle anderen wollten sich nach der Schule irgendwo treffen, aber du hast dich geweigert, mitzukommen.
»Warum?«, hatte ich gefragt.
»Ich trau ihnen nicht, keinem von ihnen«, hast du geantwortet. »Ich trau Fiona nicht. Ich will sie nicht sehen. Sie glauben, dass sie die Wahrheit gepachtet haben, aber das haben sie nicht. Ich weiß DIE WAHRHEIT . Sie nicht.«
Die Wahrheit . Wirklich DIE Wahrheit .
Es hätte Alarm in mir auslösen müssen. Aber dann hast du gesagt: »Du bist der Einzige, dem ich vertraue. Du.« Und das habe ich auch so empfunden. Das ist mir im Gedächtnis geblieben.
12 D
Der Tag, an dem es geschehen ist, die Woche, nachdem es geschehen war – an diese Zeit denke ich nur ungern zurück. Das wollte ich nicht noch einmal durchleben. Wie ich mich fühlte, als sei ich in einem Raum eingesperrt, in dem ich nur mein eigenes Blut rauschen hörte. Ich saß im Unterricht und war gleichzeitig in einer völlig anderen Welt. Saß dort auf einem Stuhl und zerbrach in unzählige Fragmente. Klammerte mich an zufällige Fakten. Hielt die Vorstellung, dass es Fakten geben sollte, selbst für eine Fiktion. Denn was wir alle sehen, sind nur die Schatten der Wirklichkeit. Verwischte Augenblicke.
Jetzt verspürte ich dieses Gefühl wieder. Nur dass diesmal keiner wirklich auf mich
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