Mein Bild sagt mehr als deine Worte
war. Normalerweise sieht man die Leute nie so vor sich und deswegen erinnert man sich so auch nicht an sie. Man erinnert sich nie an jemanden im Profil. Man erinnert sich daran, wie der andere einem in die Augen geschaut hat. Oder wie er geredet hat. Man erinnert sich an ein Bild, wie es die Person nie im Spiegel sehen könnte, weil man selbst nämlich der Spiegel ist. Das Profil, fotografisch gesprochen, steht im rechten Winkel zu der Person, wie man sie kennt.
Ich wandte mich den Leuten auf deinem Online-Profil zu, deren Namen mir fremd waren. Leute, die du vielleicht früher mal gekannt hast und die weggezogen waren. Oder irgendwelche Leute, die du in den Sommerferien kennengelernt hast oder online. Es konnte passieren, dass du dich nur ein einziges Mal mit jemandem über eine Band unterhalten hast, und dann blieb er für immer bei dir hängen. Ich habe durchgelesen, wo sie alle wohnten Kalifornien London Florida Montreal Chicago , und obwohl mir natürlich klar war, dass sie kaum extra eingeflogen wären, um mir ein Foto in den Spind zu kleben, prüfte ich bei allen nach, welche Freunde sie hatten, und klickte mich durch ihre Fotos. Wahrscheinlich hätte ich das Gefühl haben sollen, mehr über dich zu erfahren, indem ich von all diesen Leuten erfuhr. Stattdessen hatte ich das Gefühl, dich weniger und weniger zu kennen. Sie kann unmöglich mit ihnen allen befreundet gewesen sein, versuchte ich mir einzureden musste ich mir immer wieder sagen.
Es war drei Uhr morgens und ich las gerade das Profil eines Mädchens namens Kelly aus Kalifornien durch. Sie liebte die Beatles, Alice Walker, ihre beiden Katzen und eine Mischung aus schlechten Teenager-Serien und schlechtem Reality- TV . Ich klickte auf ihre Freunde, die erste Seite, die zweite … und da war er.
11 D
11 E
Sparrow. Nur dass unter dem Foto ein anderer Name stand.
Nämlich Alex.
Ich klickte auf Alex’ Profil. Dort stand, dass er in derselben Stadt in Kalifornien lebte wie Kelly. Das kapierte ich nicht. War er denn nicht hier gewesen? Ich klickte auf einen von Alex’ Freunden. Dieselbe Schule, dieselbe Stadt. Also konnte es keine Lüge sein.
Dann klickte ich auf seine Fotos.
Und da fand ich dich.
Und ihn. Und sie.
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11 H
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Ariel, sieh mich an.
Sieh mich an.
Sieh mich an.
11 K
Ich saß im Dunkeln da und starrte dich an. Der Bildschirm war die einzige Lichtquelle im Zimmer, und ich stellte mir vor, wie dein Bild in jeden Winkel projiziert wurde. Ich sah es vor mir, aber ich befand mich zugleich mittendrin. Das letzte Foto. Auf dem du nur verwischt zu sehen bist. Ich war auch nicht mehr als ein verwischter Fleck. Ich wurde aus der Gegenwart gelöscht, weil die Zeit für mich keine Barriere mehr war.
11 L
Du betrachtest eine Fotografie und versuchst, dich hineinzuversetzen. Aber du kannst es nicht. Selbst wenn du dabei gewesen bist. Du kannst es nicht.
Und wenn du unbeteiligt warst, flüchtest du dich verzweifelt in Fantasien. Du bastelst dir eine Geschichte zurecht und versuchst dir einzureden, dass sie den Tatsachen entspricht.
Aber es funktioniert nicht.
Eine Fotografie ist die Erinnerung an einen Moment.
Sie ist nicht selbst dieser Moment.
Das Betrachten der Fotografie wird zum Moment. Deinem eigenen Moment.
Meine Gedanken schweiften ab.
Weil.
Weil.
Weil du so unvergänglich lichterfüllt neugierig lebendig schön aussiehst, wie ich dich in Erinnerung habe.
»Lass uns in den Wald gehen und ein paar Fotos machen«, hast du gesagt. »Ich hab einen alten Fotoapparat gefunden.«
»Lass los!«, hast du geschrien. »Lass mich los!«
»Du musst lernen, loszulassen«, sagte der Therapeut zu mir. »Rauszulassen, was du in dir vergraben hast.«
Ich kann dein Bild berühren, aber es ist nicht dein Gesicht.
Ich kann den Bildschirm berühren, aber es ist nicht dein Gesicht.
Loslassen.
11 M
Ich zog meine Hand zurück und erinnerte mich wieder daran, warum ich hier nachts am Computer saß. Nachdenken Nachforschen.
Ich blickte auf das Datum, an dem Alex/Sparrow das Foto gepostet hatte – 13/11.
Und da war auch sie.
Die Knipserin. Kommentarlos. Namenlos.
Und ich hatte keine Ahnung
nicht die geringste
wer sie war.
Die ganze Zeit über hatte ich gedacht, sobald ich sie sähe, wüsste ich sofort Bescheid.
Ich durchsuchte das ganze Profil von Alex/Sparrow. Ich überprüfte alle seine Freunde, ob vielleicht jemand darunter war, der so aussah wie sie. Ich kehrte zu Ariels Profil zurück und durchsuchte alle ihre
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