Mein bis in den Tod
verdüsterte sich seine Miene.
Er blickte sie immer noch an, bemerkte sie aber nicht: Er sah irgendeinen Film in seinem Kopf oder war in eine Parallelwelt gereist, in der Harvey Cabot immer noch am Leben war, in der Schweiz vielleicht, und seine Rede über Teilchenphysik hielt, statt in einem Kühlschrank im Leichenschauhaus zu liegen, entleibt, ausgenommen von einem Gerichtsmediziner, mit einem Namenszettel am großen Zeh.
Sie durchforschte ihr Gedächtnis, um vielleicht eine parallele Welt, ein paralleles Universum oder einen kleinen Spalt in der Zeit zu finden, durch den sie hindurchschlüpfen konnte, um eine andere Version ihrer selbst zu sehen, eine andere Faith Ransome als jene, die soeben mit Oliver Cabot geschlafen hatte, eine Faith Ransome, die fit und gesund war und nicht an der Lendtschen Krankheit zugrunde ging. Eine Faith Ransome, deren Nervenbahnen nicht von einem wild gewordenen Haufen kidneybohnenförmiger Amöben zerfressen wurden. Eine Welt, in der sie erleben würde, wie ihr Sohn Alec aufwuchs, heiratete, in der sie Enkelkinder hatte. Eine Welt, in der sie mit diesem Mann, in dessen Armen sie lag und von dem sie nie mehr getrennt sein wollte, ein gemeinsames Leben aufbauen könnte.
»Ich liebe dich.«
Er drückte ihre Hand in stiller Anerkennung.
Sie erwiderte den Händedruck. »Fällt es dir schwer, nach Hause zu gehen?«
»Nach Hause?« Seine Stimme klang so fern.
»In deine Wohnung. In die Ladbroke Avenue.«
»Den Schauplatz eines Verbrechens?«
Einen Augenblick begriff sie nicht. Dann sagte sie: »Du darfst nicht zurückgehen.«
»Das ganze Gebäude ist abgeriegelt. Man hat mich zusammen mit einem Polizisten hineingelassen, damit ich ein paar Sachen holen kann – und gesagt, dass es noch etwa eine Woche dauert, bevor ich wieder zurückkann. Ich weiß nicht mal, ob ich je wieder dahin zurückwill.«
»Hast du – die Polizei – eine Idee, wer Harvey umgebracht hat?«
»Wenn ja, verschweigt man sie mir.«
»Wer war der andere Mann?«
»Ein Privatdetektiv. Er ist vor einigen Jahren mehrmals wegen Körperverletzung verurteilt worden. Er hat als Nachtclub-Rausschmeißer oder Ähnliches gearbeitet. Irgendein zwielichtiger Typ. Schwierig zu erkennen, wie er mit Harvey in Verbindung gestanden haben soll.« Er ließ ihre Hand los und setzte sich etwas auf. »Die Polizei behauptet, es könne sich um einen Fall von Personenverwechslung handeln. Alles deute auf einen professionell ausgeführten Mord hin. Man hat mich gefragt, ob ich Feinde habe.«
Als er sie forschend ansah, glitt ein Schatten über ihre Seele. Ja, der Gedanke war ihr auch gekommen, kurz nachdem sie gestern die Nachrichten gesehen hatte.
»Ross ist ein Tyrann, aber ich glaube nicht –«
»Ich wollte nicht –«, sagte Oliver, aber sie unterbrach ihn.
»Vor einigen Jahren hat Ross sich eine Schrotflinte gekauft, weil die Kaninchen überhand nahmen – sie fraßen alles auf unserem Grundstück und gruben die Rasenflächen um. Aber er hat sie nur gelegentlich benutzt, gegen Kaninchen.«
»Versteh mich recht, Faith, ich wollte bestimmt nicht andeuten –«
»Es war auch mein erster Gedanke. Aber ich kenne Ross. Er macht mir das Leben zur Hölle und schlägt mich, aber ich glaube nicht, dass er jemanden ermorden würde. Er ist Arzt, und das steckt ganz tief in ihm. Vor ein paar Monaten hat er eine Patientin verloren und darüber geweint, als er nach Hause kam. Im Herzen ist er noch ein Kind, das nie genug Liebe bekommen hat.«
»Die meisten Psychopathen sind Menschen, die als Kind nicht genug Liebe bekommen haben.«
»Nicht Ross. Er ist vieles, aber ich glaube nicht –«
Sie verstummte, aber die Stille war nicht mehr so entspannt wie noch vor einigen Minuten.
Warum verteidige ich Ross?
, fragte sie sich und dachte daran, dass er das Haus mit Wanzen versehen, sie und Alec geschlagen hatte. Ross war immer fanatisch eifersüchtig gewesen, aber bei Oliver war er völlig durchgedreht. Auch wenn sie wirklich nicht glaubte, dass er imstande war, jemanden umbringen zu lassen.
Aber glaubte sie das, weil es stimmte?
Oder weil es bequemer war?
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R oss stand in einer Telefonzelle in der Marylebone High Street, umgeben von Visitenkarten und Stickern von Huren.
ORIENTALISCHER GENUSS – SINNLICHE MASSAGE DURCH SUKI .
MISS STREEEEENNNG . DIE HARTE SCHULE .
NEUNZEHNJÄHRIGE DÄNISCHE BLONDINE . NEU IN LONDON .
Der Name auf der letzten Karte lautete Kerstin. Auf dem Foto sah sie nicht wie neunzehn aus,
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