Mein bis in den Tod
geschleudert durch den Abwind, das Donnern des Rotorblatts machte ihn fast taub. Als er nach rechts hinunterblickte, sah er die Einkaufsstraße. Sie war merkwürdig ruhig, in der Mitte ein riesiger leerer Halbbogen, die Leute waren zurückgetreten, begierig, gute Sicht zu haben, aber nicht so begierig, dass sie dafür sterben wollten. Aus der Rückseite eines Polizei-Mannschaftswagens wurden zwei Schäferhunde freigelassen.
Zur Linken waren Gärten, dahinter kam ein Maschendrahtzaun und dahinter dann die Gleise. Offenes Gelände. Wenn er losrannte, würden die Hunde ihn kriegen, außer er schaffte es, über den Zaun zu klettern. Aber auch dann wäre er mit ihnen auf gleicher Ebene – hier oben war er ihnen gegenüber im Vorteil. Vor ihm führte die Häuserreihe bis zur Mauer des flachen Sozialbaus. Einem vagen Plan folgend, erklomm er die Mauer und stieg durch ein Fenster in ein Büro. Vielleicht konnte er dort eine Geisel nehmen. Unter dem Gebäude gab es eine Tiefgarage, die er gut kannte – er hatte schon ein paar Fahrzeuge daraus geklaut.
Wenn er da nur hinkommen könnte. In das Gebäude. Hinunter in die Tiefgarage. Zu Sevroula.
Über ihm dröhnte das Megaphon. » KOMMEN SIE HERUNTER !«
Er blickte hoch. Und in diesem Sekundenbruchteil übersah er den gesprungenen Firstziegel, der zerbarst, als er mit dem ganzen Gewicht darauf trat und dadurch mit dem linken Fuß jäh nach unten rutschte. Im Stolpern merkte er noch, wie die Heckler & Koch aus seinem T-Shirt fiel.
Nein.
Verzweifelt griff er mit beiden Händen danach und versuchte seinen Halt zu korrigieren, aber unter seinem rechten Fuß gab noch ein Ziegel nach. Kopfüber stürzte Spider nach unten und glitt hilflos das steile, nasse Dach hinunter, während mehrere Ziegel an seinem Gesicht vorbeisausten und Hautfetzen von seinen Händen rissen.
Er schlug mit dem Kinn gegen die Regenrinne, die sich von der Mauer löste, aber irgendwie bekam er sie mit einer Hand zu fassen, und dann hing er da, in der Luft. Einen Moment lang dachte er tatsächlich, alles wäre in Ordnung, dass die Regenrinne sein Gewicht halten würde, dass er sich wieder hinaufziehen könnte. Dann aber löste sich die Halterung vom bröckelnden Mauerwerk, und er stürzte mit einem Schrei in die Tiefe, kopfüber in ein Gewächshaus.
Er prallte mit dem Gesicht auf ein Glasdach, dann landete er rücklings in einem Tomatenbeet. Einen Augenblick war er sich, trotz seiner Schmerzen und der scharfkantigen Scherben, des feuchten Geruchs bewusst, dann erhaschte er einen Blick auf etwas, das wie ein riesiger, durchscheinender Vogel aussah, gerade als eine große massive, gezackte Glasscherbe vom Dach fiel. Bevor der Schrei überhaupt seinem Mund entweichen konnte, landete sie quer auf seinem Hals und durchtrennte auf der Stelle seine Drosselvene und seine Halsschlagader.
Sein Mund füllte sich mit dem Geschmack von Kupfer. Seine Lippen gaben ein leises, schaumiges Gurgeln von sich. Tiefes Gebell antwortete darauf, und dann stand über ihm, knurrend, das Letzte, was er je sehen würde: ein Schäferhund.
Er begriff nicht, dass Spider verblutete. Er mochte ihn einfach nur nicht.
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77
D ie Segler nannten es »Seeraum«. Wenn man jede Menge tiefes Wasser um sich hat, genug, um in jede Richtung zu treiben, ohne dass man sich wegen Felsen, Sandbänken oder Land Gedanken machen musste. Hugh Caven nannte es »Denkraum«. Hierher begab er sich immer, wenn es ein Problem zu lösen galt.
Der Bug der
Sandy Lane
stieg und fiel mit der Dünung; hinter ihm, weit hinter ihm, westlich des Hecks, lag die Themse-Barriere. Die Öl-Lagerdepots und -raffinerien entlang der Küste, die Kräne, Bunkerstationen, Lagerhäuser, Yachthäfen und Kraftwerke verschwanden im kohlegrauen Dunst. In durchsichtigem wasserfesten Zellophan in einem Schränkchen unter ihm lagen die Seekarten für diese Gewässer. Er kannte die Namen auswendig: Canvey Island, Foulness, Sheerness, Isle of Grain, the Swale, Isle of Sheppey, Maplin Sands und Dutzende mehr. Man konnte diese Gewässer sein Leben lang befahren und hatte dennoch nur einen Bruchteil der Namen und Orte auf den Karten erkundet.
Zu Hause besaß er ein Exemplar von Ernest Hemingways
Der alte Mann und das Meer
. Er hielt es für das bewegendste Buch, das er je gelesen hatte. Manchmal, wenn er hier draußen in seinem Boot saß, stellte er sich gern vor, selbst Santiago zu sein, dieser entschlossene, mutige, sture Alte, der verzweifelt mit den Haien kämpfte, um seinen
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