Mein bis in den Tod
wiedersehen?
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A uf der harten Liege hinter dem Wandschirm im Behandlungszimmer der Praxis in der Wimpole Street hielt Faith, einen Riemen fest um den Oberarm gezurrt, den Atem an. Sie hatte Spritzen noch nie gemocht. Jetzt drückte die Kanüle ihr in die Haut. Faith sah zu und blickte gleichzeitig weg und zuckte zusammen, als die Kanüle die Haut durchstach. Ein jäher Schmerz, der sich anfühlte, als wäre die Nadel bis auf den Knochen gestoßen, gefolgt von einem dumpferen Schmerz. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich die Spritze stetig mit hellrotem Blut füllte.
Zwei Gesichter blickten streng und konzentriert auf sie herunter. Dr. Rittermans Sprechstundenhilfe, eine humorlose Frau um die fünfzig, und Dr. Ritterman selbst.
»Okay, Faith«, sagte er, während er um den Schirm herum auf die andere Seite ging. »Sie können sich jetzt wieder ankleiden.«
Ein paar Minuten später sah sich Jules Ritterman hinter seinem riesigen Schreibtisch die Ergebnisse der Untersuchung an. Die Gesichtshaut des ernsten, kleinen Mittsechzigers wirkte wie vertrocknetes Leder und war durchzogen von tiefen, horizontalen Furchen und flacheren Falten, die ihm das Aussehen einer klugen Schildkröte verliehen. Mit seinem grauen Nadelstreifenanzug, dem Kraushaar und der unmodischen großen Brille hätte er als Wirtschaftsprüfer oder Rechtsanwalt durchgehen können, wären da nicht sein lachsfarbenes Hemd und eine Fliege von der Farbe eines überfahrenen Frosches gewesen.
Das Zimmer war viel größer als notwendig. Faith, die in einem Ohrensessel vor dem Schreibtisch saß, sah auf die Wände, den Kaminsims aus Alabaster, den Regendunst vor dem Fenster und den grauen Maimorgen dahinter. Ross zufolge war Jules Ritterman
der
Top-Prominentenarzt in London. Er war Allgemeinmediziner und der Hausarzt von allen, die in der Society etwas darstellten. Es war typisch für Ross, dass er in seinem Bestreben, sich von seiner kleinbürgerlichen Herkunft zu distanzieren, diesen Mann hofiert und zum engen Freund gemacht hatte.
Möglicherweise hat Ritterman ja auch selbst mit nichts angefangen, dachte Faith. Vielleicht war er das Kind mittelloser jüdischer Flüchtlinge und hatte seine gut gehende Praxis mit Hilfe von Entschlossenheit, Talent und Charakterstärke aufgebaut. Sie war zwar nie warm mit ihm geworden, ebenso wenig wie mit seiner kühlen Frau, aber sie begriff doch, warum er Ross gefiel, und auch, dass er seiner prominenten Klientel bestimmt ein guter Arzt war. Allerdings hätte sie gern einen Hausarzt, mit dem sie reden konnte. Doch jedes Mal, wenn sie mit Ross darüber sprechen wollte, war er wütend geworden. In seinen Augen war Ritterman der beste, und er weigerte sich zu verstehen, warum sie zu einem schlechteren gehen wollte.
Ritterman beugte sich vor. »Also, Faith, ich glaube nicht, dass Sie sich wegen irgendetwas Sorgen machen müssen. Vermutlich haben Sie von Ihrer Reise nach Thailand ein kleines feindseliges Bakterium mitgebracht. Das ist leider eine der Gefahren des Reisens – Bazillen zu begegnen, mit denen unser Immunsystem nicht vertraut ist. Die Sache regelt sich wahrscheinlich von ganz allein. Trotzdem möchte ich zur Sicherheit Blut und Urin untersuchen. Ich gebe Ross dann Bescheid, ob bei den Tests etwas herausgekommen ist.«
»Warum sagen Sie nicht
mir
Bescheid?«, fragte sie mit ein wenig Schärfe in der Stimme. Es war immer dasselbe mit Ritterman. Ihr schien, als behandelte er sie wie ein Schulmädchen.
»Glauben Sie nicht, Sie sollten sich glücklich schätzen, einen Mann zu haben, der Ihnen medizinische Fragen erläutern kann?«
»Eigentlich nicht. Mir wäre es lieber,
Sie
würden das tun.«
Er lächelte sie besänftigend an, was jedoch keineswegs Einverständnis signalisierte. Es machte sie wütend, aber sie schwieg. So ging das immer mit Ritterman. Selbst als sie versucht hatte, mit Ross ein Kind zu bekommen, und der Test ergab, dass sie mit Alec schwanger war, hatte Ritterman Ross, nicht
sie
angerufen.
»Sie waren lange nicht mehr in meiner Sprechstunde. Wie geht es Ihnen sonst?«
»Sprechen Sie von meinen Depressionen?«
»Ja.«
»Viel besser. Ich nehme seit über einem Monat kein Prozac mehr.« Ob das seine Zustimmung fand, konnte sie seiner Miene beim besten Willen nicht entnehmen.
»Und Sie denken jetzt positiver?«
»Über das Leben?«
»Ganz generell.«
»Ich – ich glaube – ein wenig, ja.«
»Es würde nichts schaden, wenn Sie das Antidepressivum noch etwas länger
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