Mein bis in den Tod
weitere Operationen aufzuschwatzen, dachte sie.
Sie wandte den Kopf nach rechts und sah sich aus der Nähe im Spiegel an. Die Narbe war fast unsichtbar, aber nicht ganz. Auf der anderen Gesichtshälfte hatte sie auch eine, genau dort, wo der Kieferknochen mit dem Ohrläppchen zusammentraf, beide Narben waren vier Zentimeter lang. Die Überbleibsel der Operation, die Ross durchgeführt hatte, um ihre Wangenknochen zu heben.
Tagsüber, unter Make-up, waren die Narben nicht zu erkennen. Nur nachts waren sie deutlich sichtbar. Ross behauptete, dass er sie nicht wahrnehme und dass das das Wichtigste sei. Aber sie störten Faith. Sie waren der Beweis, dass es nicht ihr natürliches Gesicht war.
Manchmal fragte sie sich, ob Ross die Narben auffälliger gemacht hatte als nötig, sozusagen als Versicherung, dass sie zu weiteren Operationen bereit sei. Er könne die Narben bei der nächsten Operation besser verbergen, sagte er immer. Auch unter ihren Brüsten waren nach der Implantation Narben zurückgeblieben, um die er sich kümmern werde, wenn sie älter sei und ein Brust-Lifting benötige, so Ross. Und außerdem, hatte er erklärt: »Niemand anders als ich wird dich je so zu Gesicht bekommen – was also ist dein Problem?«
Als sie in den Wartebereich zurückgekehrt war, setzte sich Faith auf einen Stuhl, der bequemer war, als er aussah. Vor ihr war ein kleiner Zen-Garten angelegt, mit einem Springbrunnen, der über eine Gruppe runder, flacher Steine plätscherte. Sie warf einen Blick auf die anderen Patienten: ein ausgemergelter Mann Ende dreißig mit viel zu weiter Kleidung und eingesunkenen Augen, vielleicht ein Aidskranker; ein schick gekleideter Mann, der hektisch an seinem Laptop arbeitete; eine rundliche Frau, sie trug eine Art Inka-Decke und saß mit geschlossenen Augen da, ein Baby auf dem Schoß, dem ein langer Rotz aus der Nase hing; und eine junge, adrett gekleidete Asiatin in einem Nadelstreifenkostüm, die in der Zeitschrift
Heath and Fitness
blätterte.
Faith blickte auf die Zeitschriften, die auf einem Seitentisch lagen. Mehrere Newsletter zur alternativen und komplementären Medizin sowie ein ganzer Stapel Cabot-Zentrum-Broschüren. Dann sah sie eine Ausgabe der
Zeitschrift der Forschungsgesellschaft für Hypnotherapie
, die mit einem Artikel von Dr. Oliver Cabot auf der Vorderseite warb. Sie nahm die Zeitschrift zur Hand und schlug den Artikel auf. Er trug den Titel »Remission von Krebserkrankungen durch zirkadiane Neuprogrammierung«. Sie begann darin zu lesen, hatte jedoch Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Im Hintergrund klingelte leise ein Telefon.
Faith hatte große Sorgfalt auf die Frage verwandt, was sie heute tragen sollte. Leger, aber nicht nachlässig. Schick, aber nicht allzu schick. Schließlich hatte sie sich für einen dünnen grauen Cashmere-Pullover mit Rollkragen, schwarze Baumwolljeans, schwarze Wildlederstiefel und ihren langen Kamelhaarmantel entschieden. Sie sah gut aus heute, fand sie. Ihre Frisur saß gut und ihr Gesicht sah entspannt aus. Dennoch fühlte sie sich miserabel. Die Übelkeit und die Nerven. Na toll.
Ein Schatten fiel auf sie, dann setzte sich eine abgehetzt wirkende Frau mit zwei kleinen Jungen, alle drei mit laufenden Nasen, neben sie.
»Mama«, sagte einer der Jungen, »ich muss aufs Klo.«
»Dort bist du erst vor einer halben Stunde gewesen. Du musst –«
»Mrs. Ransome?« Faith drehte sich um. Eine Frau in der gleichen Kleidung wie die Empfangsdame begrüßte sie mit einem Lächeln. Sie war Anfang dreißig, eine Latino-Schönheit mit kurzem braunem Haar und einem – so wie die Rezeptionistin – ungewöhnlich gesunden Teint. »Dr. Cabot kann sie jetzt empfangen.«
Die Frau stieg eine Treppe hinauf, als wäre sie gewichtslos. Faith dagegen spürte die Schwerkraft in jeder Faser ihres Körpers.
Wenn er sich mit solchen Frauen umgibt, welche Chance habe ich dann?
Dann tadelte sie sich: Das ist doch gar nicht mein Interesse. Dies ist nichts weiter als ein Höflichkeitsbesuch. Ich bin wegen meiner Übelkeit gekommen – weil mein Arzt bislang nichts diagnostizieren konnte. Das ist alles. Deshalb bin ich hier.
Sie folgte der Frau einen Flur entlang, vorbei an einem Zimmer mit der Aufschrift »Entspannungstherapie« und einem weiteren mit dem Schild »Hypnotherapie«.
»Faith!«
In einer der Türen stand Oliver Cabot. Er trug ein schwarzes Jackett, ein graues kragenloses Hemd, eine schwarze Hose und schwarze Lederschuhe. Er sah noch besser
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