Mein bis in den Tod
aus als bei ihrem letzten Zusammentreffen, aber ernster. Sie hatte das Gefühl, Oliver Cabot, den Arzt, und weniger Oliver Cabot, den Freund, zu besuchen. Doch als sie bei ihm ankam, änderte sich sein Gesichtsausdruck – er schien sich zu freuen. Und als sie ihm die Hand reichte und in das markante, ein wenig pferdeähnliche Gesicht unter dem grauen Lockenschopf blickte, schenkte er ihr ein strahlendes Lächeln. Sogleich schmolzen ihre Ängste dahin, und ein Gefühl der Erregung wallte in ihr auf.
»Faith!«, sagte er noch einmal und sah ihr direkt in die Augen, was ihr das Gefühl gab, das Wichtigste in seinem Leben zu sein. »Toll, dass Sie gekommen sind. Hallo!«
»Hallo!«
»Wie geht’s Ihnen?«
»Ganz gut, danke.«
Sie hielten sich noch immer die Hand, und es erschien ihr wie die natürlichste Sache der Welt, in dieser Tür zu stehen und die Wärme seiner funkelnden, kristallklaren grauen Augen in sich aufzusaugen.
Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Es war so schön, neben diesem Mann zu stehen, so irrsinnig schön. Sie empfand etwas, das sie seit Jahren nicht mehr kannte.
Ein Gefühl der Freiheit.
[home]
19
R oss beendete seine Visite in der Tagesklinik und ging in den Personalraum, um schnell einen Kaffee zu trinken. Das kleine, schmale Zimmer verfügte über eine Kochnische, an beiden Wänden standen Stühle. Tommy Pearman, sein Anästhesist, folgte ihm. Pearman, ein untersetzter Mann mit der Figur eines Kartoffesacks, sah in der weiten blauen Chirurgenhose noch unförmiger aus, als er es sowieso schon war. Der Witwer lebte für seine Arbeit und seine verschiedenen Hobbys. Er war ein leidenschaftlicher Sammler, von etruskischer Kunst, Oldtimern, alten Seekarten, medizinischen Lehrbüchern und – groteskerweise – Krankheiten. Im Laufe der Jahre hatte er mittels seiner Kontakte zu Forschungsabteilungen eine beeindruckende Sammlung von Bakterien und Viren aufgebaut, die er in einem kühlen Lagerraum in seinem herrschaftlichen Haus in der Grafschaft Kent aufbewahrte. Eines Sonntags, als Ross und Faith zum Lunch dort gewesen waren, war er mit Ross in den Kellerraum gegangen und hatte ihm seine Sammlung gezeigt.
In den hunderten sorgfältig beschrifteter Ampullen befanden sich unter anderem eine Pocken-Kultur, fünf Hepatitis-Stämme, Erreger der Virusmeningitis, der Pest, Anthrax-Viren sowie ein sowjetisches Virus namens Marburg, das zur biologischen Kriegsführung entwickelt worden war und die inneren Organe vollständig auflöste. Als Ross ihn gefragt hatte, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, so etwas aufzubewahren – vor allem Pockenerreger, die als ausgerottet galten –, hatte Pearman geantwortet, dass er sich sicherer fühle, wenn sie hier seien, sicher untergebracht in seinem Keller, als wenn sie irgendwo da draußen herumfliegen würden. Der Anästhesist war brillant in seiner Arbeit, und obwohl er sich manchmal über Kleinigkeiten wahnsinnig aufregte, hatte Ross vollstes Vertrauen zu ihm. Und im Moment regte er sich auf. »Ich war bei Mrs. Jardine«, sagte er. »Sie hat eine furchtbare Erkältung und hustet Sputum. Ich bin mit ihrem Zustand überhaupt nicht zufrieden.«
Ross blickte auf seine Liste. Elizabeth Jardine stand ganz oben auf dem OP -Plan für heute Nachmittag. Ein großes Face-Lifting. Die 57-Jährige war mit einem Filmproduzenten verheiratet und wollte Mitte Juli drei Monate in Los Angeles verbringen. Eine nette Frau, die er gleich beim ersten Gespräch sympathisch gefunden hatte. Sie wollte die Operation unbedingt noch vor der Reise in die USA machen lassen.
Er ging im Geist die Liste durch. Nach Elizabeth Jardine war ein siebenjähriges Mädchen mit einer Brandnarbe auf der Brust an der Reihe, dann noch ein Kind, ein neunjähriger Junge mit einer stellenweise verdickten Kopfhaut, wodurch der Haarwuchs ausblieb, eine Frau mit einem Tumor an der Wade, noch eine Frau mit einer Krebsgeschwulst im Gesicht sowie ein Jugendlicher mit einer Penisdeformation – die Erektionen waren schmerzvoll, weil man bei der Beschneidung zu viel von der Vorhaut entfernt hatte. Ein volles Programm. Trotzdem sagte er: »Ich würde die OP nur ungern verschieben. Die Patientin hätte schon vor einem Monat drankommen sollen, aber damals bekam sie eine Grippe – sie wird ziemlich verärgert sein.«
Pearman schüttelte den Kopf. »Es wäre unklug, sie jetzt zu operieren.«
»Wie schlecht geht es ihr?«
»Sehr schlecht. Sieh sie dir einmal an.«
Normalerweise hätte er
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