mein buch vom leben und sterben (German Edition)
unverhältnismäßig. ich finde, es muss gewährleistet sein, dass menschen voneinander abschied nehmen können,
ohne finanziell daran zu grunde zu gehen oder darüber nachdenken zu müssen, ob sie sich es überhaupt leisten können, den verstorbenen noch einmal zu sehen.
also bat mich die bestatterin, in drei Stunden wiederzukommen, dann wäre meine mutter aufgebahrt und angezogen. viel konnte ich mir darunter nicht vorstellen, aber ich hatte ein gutes gefühl dabei.
die drei stunden überbrückte ich, indem ich das grab meines vaters besuchte. ich war jahre nicht dort gewesen, und als ich nun da stand, schien es so, als gäbe es nichts zu sagen.
ich verabschiedete mich, dankte ihm dafür, dass sein so frühzeitiges ableben mir in vielen dingen geholfen hat, mein eigenes leben zu verstehen und nahm seinen dank entgegen, dass ich ihn begraben hatte.
danach verbrachte ich noch einige zeit am kanal. ich komme halt aus dem ruhrpott. da gibt es kein meer und keine berge, aber wir haben den kanal. ich saß einfach nur da und blickte auf das wasser, das mir von kind an sehr nah war, da wir dort aufgewachsen sind, im sommer
dort mit freunden gegrillt haben und mit dem rad daran entlanggefahren sind.
zurück im bestattungsinstitut rückte also der moment des letzten abschieds von meiner mutter furchtbar nahe. als ich die offene tür zu ihr sah, wurde mir schwer ums herz. die bestatterin sprach mir mut zu und sagte: »sie sieht ganz friedlich aus, ich finde, sie lächelt sogar, treten sie nur ein ...«
und dann war es so wie früher, als ich vom drei-meter-brett in der schule springen musste. man steht da und ist beinahe wie gelähmt vor angst, und es kommt dieser moment, in dem man springt. und genau so sprang ich. ich betrat das zimmer, und im selben augenblick wusste ich: alles ist gut.
»sie können ihrer mutter nun alles sagen, ich bin draußen, und sie können so lange bleiben, wie sie mögen«, sagte die bestatterin leise.
ich setzte mich auf einen stuhl neben dem sarg, und mir entglitten lediglich zwei leise worte: »ach mama, ach mama«, und dann waren wir zwei alleine, wie wir es noch nie gewesen waren.
erst kurze zeit später bemerkte ich die leise musik, buddhistische mantras, den geruch, der in der luft lag, nag-champa-räucherstäbchen. es war alles so, wie ich es mir für mich selbst wünschen würde. und zum ersten mal im leben hatte ich das gefühl, dass meine mutter und ich uns wortlos verstanden, und ich war ihr sehr nah.
meine auseinandersetzung mit glaube, religion, dem sterben, mein wunsch zu reisen, meine affinität zum buddhismus und zu asien, meine liebe zur kunst und zur musik, zu gutem essen und tee, der nicht im teebeutel aufgebrüht wird, das alles war meiner mutter zu lebzeiten eigentlich fremd.
und da waren wir nun. nur wir zwei, und ich hatte das gefühl, dass all das, was ich ihr jemals sagen wollte, verstanden wurde, ohne dass auch nur ein wort fiel.
heute weiß ich, dass die entscheidung, meine mutter ein letztes mal zu sehen, für mich richtig und sehr wichtig war. und ich lese auch immer wieder von menschen, die so ihren frieden mit dem verstorbenen schließen konnten und dass genau das sehr wichtig sei für
die eigene trauerbewältigung. ein letzter abschied quasi.
so muss ich einfach wiederholen: es war ein sehr schöner vormittag mit meiner toten mutter und einer der schönsten momente meines lebens. ein moment, den ich immer bei mir trage, in einer kleinen schachtel aufbewahrt, in meinen hosentaschen, direkt neben dem kaugummi.
schreib mich voll, mein baby, mein schatz!
für udo und peter, für gabi und rolf, für angi und albrecht, für kevin und silke, für jens und ulla, für captain jack und elvis presley
als mein vater starb, arbeitete ich – wie bereits erwähnt – beim kinderkanal, moderierte eine kleine aber feine tv-sendung und trat gerade in jenem sommer gemeinsam mit meinem besten kumpel »günter kastenfrosch« auf so ziemlich jedem sommerfest in der republik mit unserem smash-hit »der günter song« auf. in dem song verliebt sich günter in ein aupairmädchen aus den usa, das auf der bühne von meiner schulfreundin naomi gespielt wurde.
hätte mein vater sich nun also nicht entschlossen, noch vor der jahrtausendwende dieses leben zu beenden, hätte es ein recht schöner, beschwingt leichter sommer werden können. wir »tourten« durch deutschland und machten abends dort, wo wir gerade waren, die
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