mein buch vom leben und sterben (German Edition)
hatte noch einiges vor in ihrem leben. sie war gerade wieder großmutter geworden, in ihrer beziehung glücklich und in ihrem alltag zufrieden. sie hatte sich gerade erst eine neue couchgarnitur bestellt und hatte sicherlich andere pläne, als plötzlich krebs diagnostiziert zu bekommen.
als ihr krebs festgestellt wurde, sagten die ärzte, es sei »der aggressivste krebs, den sie je gesehen hatten«. meine mutter wollte gegen den krebs angehen. sie wollte den kampf gegen ihn aufnehmen. doch gegen seinen krebs zu kämpfen, ist etwas, das mir persönlich bis heute unsinnig erscheint. ich glaube, den kampf gegen sich selbst, gegen einen teil von sich, den kann man nur verlieren.
vielleicht sollte man einem krebs besser mit neugierde begegnen und fragen: woher bist du gekommen? wie können wir gemeinsam weiterleben? wenn ich sterbe, stirbst du auch. ich scheine dich irgendwie erschaffen zu haben. in meinem körper bist du gewachsen. wie kann ich dir gegenübertreten?
ich bin nicht sicher, ob ich in der lage wäre, diese sätze für mich selbst anzuwenden, sollte ich einmal in eine solche situation kommen. näher als an meine mutter konnte mir der krebs bislang nicht kommen, und doch sind mir persönlich diese gedanken vertrauter als das konzept des kämpfens und des kriegführens gegen sich selbst.
ich hatte mehr als einmal den gedanken, dass ich es eigentlich schön finden würde, am
ende meines eigenen lebens eine gewisse zeit zu bekommen, in der ich abschied nehmen und dankbar auf das erlebte zurückblicken könnte. ich stellte mir vor, wie alltagssorgen von mir fallen: zukunftspläne, beruflicher erfolg, geldanlagen, haarausfall, älter werden und ungerechtigkeiten. wie ich einfach nur liegen könnte mit meinen liebsten, mit einem perfect manhattan in der hand, den niemand so gut mixt wie meine vermieterin margret, mit guter musik und frischem tee auf dem herd.
damals lernte ich, was es heißt, jeden tag so zu leben, als wäre es der letzte. viele dinge hört man im leben, begreift sie auch, aber sie dann selbst zu erfahren und zu spüren ist etwas ganz anderes. und seitdem versuche ich, an jedem mir nur möglichen tag abends einfach ruhig dazuliegen, mit meinen liebsten am telefon, im arm oder in gedanken, mit einem perfect manhattan, made by margret, mit einem guten lied und einer tasse tee.
als altenpflegerin kannte meine mutter den verlauf einer krebserkrankung im endstadium und verlangte ständig, über die morphiumdosierung genauestens informiert zu werden.
sie wollte sich nicht »abschießen« lassen und solange es ging bei klarem verstand bleiben.
sie hatte ihr vorangehen einfach noch nicht akzeptiert. sie wollte noch bleiben. sie wollte einfach wieder aufstehen und nachmittags auf der couch tine wittler gucken.
bis zu jenem einen moment, an dem sie realisierte: das wird nichts mehr. an dem sie einfach zum arzt sagte: »ich habe keinen bock mehr, jetzt schieß mich ab.«
ich denke, da hatte sie verstanden, dass es kein zurück mehr gab, kein kämpfen mehr nötig war. ihr wurde bewusst: nun werde ich erleben, was es heißt zu sterben. nun werde ich all das bewusst erfahren, wovon die, die zurückbleiben, nur philosophieren können.
richtig bock drauf hatte sie immer noch nicht, aber sie fügte sich und trat ihre letzte reise verhältnismäßig schlecht gelaunt in einer sonntagnacht an.
ich dachte nur, wie schade. wenn man doch sowieso sterben muss, wieviel schöner wäre es doch dann, wenn man es genießen könnte.
ich trat einen schritt zur seite, und mir wurde klar, dass genau dieser moment auch einmal mich erreichen würde, dass er einen jeden menschen erreichen wird. und zwar genau dann, wenn er uns erreichen soll.
sechs monate vorher hatte ich mit meiner mutter noch in der küche gesessen, und dieser moment war so weit entfernt, wie das eintreffen eines raumschiffs oder der gewinn eines golden globes, und nun war er plötzlich einfach da. und es kam mir ganz natürlich vor.
und so gibt es für alles im leben eine rechte zeit, zum tanzen, zum feiern, zum trauern und es gibt auch eine rechte zeit zum sterben. ich wünsche dir und mir, dass wir diesem moment mit einem lied auf den lippen begegnen werden. so wie es eine dame im hospiz einmal tat. sie ließ kurz bevor sie starb ihren enkel ganz nah an sich herankommen, nahm seine hand und sang ihm ins ohr: »so ein tag, so wunderschön wie heute, so ein tag der dürfte nie vergehen ...«
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