Mein digitales Ich
Chefarzt einer Klinik, der befürchtet, die durch dasDatensammeln entstehende Illusion der absoluten Kontrolle sämtlicher Körperfunktionen bewirke einen Verlust der gesunden Selbstwahrnehmung. Außerdem bestehe die Gefahr, dass »die vom Messen Besessenen« irgendwelche »selbst konstruierten Pseudokorrelationen« überbewerteten und Zusammenhänge sähen, wo gar keine seien.
Besessen, ein bisschen spinnert … Fast klingt es, als wolle taz -Autorin Meike Laaf die Vorreiter der deutschen Quantified-Self-Bewegung, Christian Kleineidam und Andreas Stadler, in Schutz nehmen, wenn sie schreibt, die beiden müssten aufpassen, »dass man sie nicht als Spinner belächelt. Und dass die Angst vorm gläsernen Patienten ihre Bemühungen nicht vereitelt. Das schlimmste Label, das man ihnen verpassen könnte, wäre, dass sie für eine Art Digitalesoteriker gehalten werden, die eine Gesundheitsdiktatur errichten wollen.« 7 Kritisch, aber weitaus weniger skeptisch als es die Überschrift »Die Körperkontrolleure kommen« vermuten lässt, bringt die Autorin uns in Begleitung von Kleineidam und Stadler alle wichtigen Aspekte der Self-Tracking-Bewegung nahe.
Doch genau diese Gefahr einer Gesundheitsdiktatur sieht die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh. Unter der Überschrift »Der vermessene Mann« warnt sie im Züricher Tages-Anzeiger 8 vor den möglichen Ausmaßen des – männlich geprägten – Vermessungswahns: »Das Mündige an einem Bürger ist nicht der Körper, sondern der Geist. Die Verwandlung eines Lebewesens in Zahlenkolonnen macht den Menschen zum Objekt und läuft damit automatisch Gefahr, Fremdherrschaft zu begründen.« Dies wäre spätestens dann der Fall, wenn Quantified Self allgemein verpflichtend würde und Versicherungsleistungen je nach Daten-Grundlage bewilligt oder verweigert würden.
Wie Quantified Self das Gesundheitssystem verändern könnte, interessiert auch Max Rauner in seinem Artikel »Das Handy als Hausarzt« auf zeit.de. 9 Er skizziert einen »neuen Patiententyp«, auf den Ärzte sich schon mal gefasst machen sollten: »Er probiert selbst aus, was ihm gut tut, und zückt im Sprechzimmer Geräte mit USB-Anschluss, mit deren Hilfe er sich schon ausgiebig selbst untersucht hat. Er kann nerven – vielleicht kann er dem Arzt aber auch die Arbeit erleichtern, wenn man ihm die richtige App empfiehlt.« Selbst das britische Gesundheitsministerium hat sich offenbar für diese Idee erwärmt und hat, so lesen wir, die britische Ärzteschaft ganz offiziell aufgefordert, künftig Empfehlungen für Smartphone- und Web-Anwendungen auszusprechen. Auf der Webseite des Ministeriums konnten Mediziner Ende Februar 2012 über rund 500 Programme und App-Ideen abstimmen. Ähnlich wie Juli Zeh beschreibt auch Max Rauner die Bewegung als weitgehend männliches Phänomen. Im Unterschied zu Zeh aber, die den Trend mit einer »männlichen Magersucht« vergleicht, findet er daran nichts Beunruhigendes, sondern lobt den Umstand, dass auf die Weise eine Klientel begeistert werde, »die sich für ihren Körper sonst nicht interessiert: Männer.«
Die obsessive Selbsterkundung mit dem Smartphone und mit anderen, immer ausgefeilteren technischen Spielereien zur Körper-Überwachung macht Melanie Mühl im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung allerdings mehr Sorgen als Freude. Ihr Artikel »Das Handy wird zum Körperteil« 10 kommt zu dem Schluss: »Die Quantified-Self-Bewegung, die jedemGraphen, jeder Statistik huldigt, ist nur die Zuspitzung unserer übersteigerten Zahlenaffinität. Besonders absurd an der Sammelwut ist, dass die Zahlen am Ende dazu dienen sollen, unserem Körper Gutes zu tun – einem Körper, der uns fremd geworden ist, auf den wir nach der Quantified-Self-Logik längst nicht mehr hören. Seine innere Stimme haben wir auf stumm geschaltet. An ihre Stelle ist die Maschine getreten, die zu uns spricht.«
Ganz anders dagegen der Literaturprofessor Stephan Porombka. Die Gefahr einer Entfremdung vom eigenen Körper durch Quantified Self sieht er nicht – im Gegenteil! Unter der Überschrift »Smartphone-Daten für das Ich-Labor« unterzieht sich der Geisteswissenschaftler im Berliner Tagesspiegel einem Selbsttest. Sein Erfahrungsbericht zeigt einen frisch euphorisierten Selbstvermesser: »Ich versuche, Beziehungen zu erkennen. Zum Beispiel zwischen dem Lesen, dem Schreiben, dem Laufen und dem Schlafen. Zum Beispiel zwischen dem Essen, dem Twittern, dem Surfen im Netz, dem Schreiben von Mails
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