Mein erfundenes Land
Vom hintersten Winkel des Tischs aus sah ich, wie er lustlos im Essen stocherte, und dabei wetterte er gegen Franco, gegen die Monarchien und die Pfaffen, ohne daß er jemals zu mir herübergesehen hätte, denn für Kinder hatte er sowenig übrig wie für Hunde. Doch eines Tages im Winter sagte der Katalane unvermittelt, er werde einen Spaziergang mit mir machen, wand sich einen langen Schal um den Hals, und wir brachen schweigend auf. Wir erreichten ein graues Gebäude, betraten es durch eine Metalltür und folgten langen Fluren, in denen sich riesige Papierrollen stapelten. Ein ohrenbetäubender Lärm ließ die Wände erzittern. Da sah ich, wie ersich veränderte, sein Gang wurde beschwingt, seine Augen leuchteten, er lächelte. Zum erstenmal faßte er mich an. Er nahm mich an der Hand und führte mich vor eine Wundermaschine, eine Art schwarzer Lokomotive, deren Mechanik vollständig offen lag, ausgeweidet und zornbebend. Er verschob ein paar Hebel, und mit Kriegsgetöse fielen die Matrizen herab und formten die Zeilen eines Textes.
»Ein verfluchter deutscher Uhrmacher, der in die USA ausgewandert ist, hat diesen Traum 1884 patentieren lassen«, schrie er mir ins Ohr. »Linotype heißt das Ding. Früher mußte man den Text Buchstabe für Buchstabe von Hand setzen.«
»Wieso ›verflucht‹?« schrie ich zurück.
»Weil mein Vater zwölf Jahre früher in seinem Hinterhof genau die gleiche Maschine erfunden hat, und sie hat funktioniert, aber damals krähte kein Hahn danach.«
Der Buchdrucker kehrte nie nach Spanien zurück, er blieb und bediente die Maschine der Wörter, heiratete, wurde unverhofft mit Kindern gesegnet, lernte, Gemüse zu essen, und adoptierte mehrere Generationen herrenloser Hunde. Mir hinterließ er für immer die Erinnerung an die Linotype und die Vorliebe für den Geruch nach Druckerschwärze und Papier.
In der Gesellschaft, in die ich in den vierziger Jahren hineingeboren wurde, waren die sozialen Schichten durch unpassierbare Grenzen voneinander geschieden. Heute sind diese Grenzen zwar weniger sichtbar, aber gleichwohl vorhanden, überdauern die Zeit wie die Chinesische Mauer. Gesellschaftlich aufzusteigen war früher unmöglich, der Abstieg kam häufiger vor, zuweilen genügte es, die Wohngegend zu wechseln oder sich schlecht zu verheiraten, was nicht bedeutete, daß man sich für einen Schuft oder einen Drachen entschieden hatte, sondern für jemanden unterhalb der eigenen Sphäre. Geld fiel dagegen kaum ins Gewicht.Wer verarmte, stieg deshalb nicht gesellschaftlich ab, und ebensowenig konnte man aufsteigen, indem man ein Vermögen anhäufte, wie Araber und Juden feststellen mußten, die, so reich sie auch werden mochten, nie Zutritt zum erlesenen Kreis der »besseren Leute« fanden. Mit diesem Begriff belegten sich jene an der Spitze der Gesellschaftspyramide (und meinten damit wohl implizit, alle anderen seien »schlechtere Leute«).
Ausländer nehmen diese empörende Klassifizierung nur selten wahr, denn der Umgangston ist in allen gesellschaftlichen Kreisen familiär und höflich. So war die gröbste Bezeichnung für die Militärs, die in den siebziger Jahren die Macht übernahmen, »frecher Pöbel«. Heute liegt das Wort »Pöbel« zwar den meisten beständig auf der Zunge, doch wagt kaum jemand, es auszusprechen, weil es miserabel aufgenommen wird. Für meine Tanten war es einfach dégoûtant , Pinochet-Anhänger zu sein; das war keine Kritik an der Diktatur, mit der sie vollauf einverstanden waren, sondern Standesdünkel. Unsere Gesellschaft gleicht einer Blätterteigtorte, jeder hat seinen Platz in der Schicht, in die er hineingeboren wird. Früher stellten sich die Leute mit ihren beiden Familiennamen vor – und die Oberschicht tut das noch heute –, um ihre Stellung und Abstammung deutlich zu machen. Wir Chilenen sind gut geschult darin, jemandes sozialen Rang anhand seines Aussehens, seiner Hautfarbe, seiner Umgangsformen und vor allem anhand seiner Redeweise zu erkennen. In anderen Ländern mag der Tonfall je nach Gegend variieren, in Chile variiert er nach gesellschaftlicher Sphäre. Für gewöhnlich können wir auch die Zwischensphären auf Anhieb erraten. Zwischensphären gibt es um die dreißig, gegliedert nach dem Grad von Geschmacklosigkeit, Aufsteigertum, Affektiertheit, Neureichengehabe usw. So weiß man etwa, wo jemand hingehört, wenn man erfährt, in welchem Badeort er den Sommer verbringt.
Der Vorgang der automatischen Klassifizierung, den wirbeim
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