Mein erfundenes Land
das dauernd von Katastrophen heimgesucht wird, die an den Fundamenten des Lebens rütteln, von Sintfluten, die ganze Dörfer wegschwemmen, von Riesenwellen, die Schiffe mitten auf den Kirchplatz spülen. Wir hängen der Vorstellung an, daß das Leben gefährdet ist, und rechnen jeden Moment mit dem Hereinbrechen eines neuen Unglücks. Mein Mann – einsachtzig groß und wenig beweglich in den Knien – verstandnicht, warum ich die Gläser und Teller in den untersten Schrankfächern der Küche verstaute, wo er nur drankommt, wenn er sich auf den Rücken legt, bis nach dem Erdbeben von 1988 in San Francisco alles Geschirr unserer Nachbarn in Scherben lag, unseres jedoch heil geblieben war.
Nun muß man nicht meinen, daß wir uns unentwegt in Schuldgefühlen ergehen und gute Werke tun, um die ökonomische Ungerechtigkeit auszugleichen. Keine Spur. Unser Ernst wird durch unsere Freude am Schlemmen mehr als wettgemacht: In Chile spielt sich das Leben um den Eßtisch ab. Die meisten Unternehmer, die ich kenne, sind Diabetiker, denn geschäftliche Treffen schließen Frühstück, Mittagessen oder Abendessen ein. Keiner unterschreibt ein Papier, bevor er nicht wenigstens einen Kaffee mit Keksen oder einen Schnaps zu sich genommen hat.
Unter der Woche aßen wir zwar täglich Hülsenfrüchte, aber sonntags sah der Speiseplan anderes vor. Ein typisches Sonntagsessen im Haus meines Großvaters begann mit herzhaften Empanadas, gefüllt mit Fleisch und Zwiebeln, von denen selbst der Magenstärkste Sodbrennen bekommen konnte; darauf folgte eine Totenerweckungssuppe aus Fleisch, Mais, Kartoffeln und Gemüse; dann ein üppiges Ragout aus Meeresfrüchten, deren Wohlgeruch das Haus durchströmte, und zum Abschluß eine Kollektion unwiderstehlicher Nachspeisen, unter denen die manjar blanco -Torte nach einem alten Rezept von Tante Cupertina nicht fehlen durfte, all das begossen mit Litern unseres unheilvollen Pisco sour und vielen Flaschen besten Rotweins, der über Jahre im Keller des Hauses reifte. Bevor wir vom Tisch aufstanden, bekamen wir einen Löffel Magnesiummilch. Fünfmal soviel wurde aufgefahren, wenn ein Erwachsener Geburtstag hatte; wir Kinder waren solcher Ehren nicht wert. Das Wort Cholesterin fiel nie. Meine Eltern, mittlerweile über achtzig, verzehren in der Woche neunzig Eier, einen Liter Sahne, einPfund Butter und die vierfache Menge Käse. Sie sind gesund und rosig wie Säuglinge.
Besagte Treffen im Familienkreis boten nicht nur eine vorzügliche Gelegenheit, nach Lust und Laune zu schlemmen und zu trinken, sondern auch, sich bis aufs Messer zu bekriegen. Nach dem zweiten Glas Pisco sour waren die Schreie und Beschimpfungen meiner Verwandtschaft im ganzen Viertel zu vernehmen. Später ging dann jeder seiner Wege und schwor, nie mehr ein Wort mit den anderen zu wechseln, am nächsten Sonntag wagte aber keiner fernzubleiben, weil mein Großvater das nicht verziehen hätte. Wie ich höre, hat sich diese Unsitte in Chile gehalten, obwohl doch sonst manch Althergebrachtes über Bord geworfen wurde. Diese obligatorischen Familienzusammenkünfte waren mir immer ein Greuel, dennoch muß ich feststellen, daß ich sie nun im Hochsommer meines Lebens in Kalifornien reproduziere. Mein ideales Wochenende sieht so aus: Das Haus ist voll, es wird für ein Regiment gekocht, und der Tag endet mit einem lautstarken Zank.
Ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen Verwandten fanden hinter geschlossenen Türen statt. Das ist ein Luxus der betuchten Schichten, die meisten Chilenen können ihn sich nicht leisten. Von der Mittelklasse abwärts leben die Familien dicht gedrängt, in vielen Häusern teilen sich mehrere Personen ein Bett. Selbst wenn es mehr als ein Zimmer gibt, sind die Zwischenwände in aller Regel so dünn, daß man hört, wenn nebenan jemand atmet. Um miteinander zu schlafen, muß man sich an den unglaublichsten Orten verstecken: in öffentlichen Bedürfnisanstalten, unter Brücken, im Zoologischen Garten usw. Auch im günstigsten Fall wird es wohl noch Jahrzehnte dauern, bis jeder über sein Stückchen Privatsphäre verfügt. Sollte es da nicht noble Pflicht der Regierung sein, kostenlose Motels für liebesbedürftige Paare anzubieten? Das würde so mancher Seelenpein vorbeugen.
In jeder Familie gibt es Hallodris, aber die Losung lautet immer, die Reihen um das schwarze Schaf zu schließen und den Skandal zu vermeiden. Wir Chilenen lernen von Kindesbeinen an, daß »die schmutzige Wäsche zu Hause gewaschen wird«,
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