Mein erfundenes Land
Populist und eine starke Persönlichkeit gewesen und hatte Ideen verfolgt, die für seine Zeit fortschrittlich waren;sein Sohn war konservativ und machte insgesamt eine eher kleinmütige Figur.
Während es in den meisten lateinamerikanischen Staaten zu revolutionären Umbrüchen kam und vielerorts die Caudillos die Macht mit Waffengewalt übernahmen, war Chile eine vorbildliche Demokratie geworden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm der soziale Fortschritt Gestalt an. Die kostenlosen staatlichen Schulen mit Schulpflicht, eine für alle erschwingliche medizinische Versorgung und eins der fortschrittlichsten Sozialversicherungssysteme des Kontinents trugen dazu bei, daß eine breite, gutausgebildete und politisch interessierte Mittelschicht und ein Proletariat mit Klassenbewußtsein entstehen konnten. Gewerkschaften wurden gegründet, Interessenvertretungen von Arbeitern, Angestellten, Studenten. Die Frauen bekamen das Wahlrecht, und das Wahlsystem wurde perfektioniert. (Bei einer chilenischen Wahl geht es so gesittet zu wie beim Tee im Savoy-Hotel in London. Die Bürger stellen sich »in die kleine Schlange«, ohne daß es je zu Aufruhr käme, wie erhitzt die politischen Gemüter auch sein mögen. Männer und Frauen wählen in verschiedenen Wahllokalen, und Soldaten wachen darüber, daß es nicht zu Störungen oder Manipulationen kommt. Schon am Tag zuvor wird kein Alkohol verkauft, und am Wahltag bleiben Geschäfte und Büros geschlossen; an diesem Tag wird nicht gearbeitet.)
Von dem Ruf nach sozialer Gerechtigkeit wurde auch die katholische Kirche erfaßt, die ja in Chile großen Einfluß hat, und gestützt auf die Enzykliken von Johannes XXIII. , mühte sie sich, die landauf, landab angestoßenen Reformen zu fördern. Unterdessen verfestigten sich in der Welt zwei einander ausschließende politische Systeme: Kapitalismus und Sozialismus. Als Bollwerk gegen den Marxismus waren in Europa christdemokratische Parteien entstanden, Bündnisse der Mitte, die sich den abendländischen Werten und dem Gemeinwohl verpflichtet fühlten. In Chile fügten dieChristdemokraten, die eine »Revolution der Freiheit« versprachen, der konservativen Rechten und den Parteien der Linken in den Wahlen von 1964 eine vernichtende Niederlage zu. Der überwältigende Sieg von Eduardo Frei Montalva, der sich auf eine christdemokratische Mehrheit im Parlament stützen konnte, war ein Markstein; das Land hatte sich gewandelt, man glaubte, die Rechte werde nun Geschichte sein, die Linke niemals wieder eine Chance bekommen, die Christdemokraten dagegen auf Jahrhunderte hinaus regieren, aber es kam anders, denn die Partei hatte ihren Kredit bei der Bevölkerung binnen weniger Jahre verspielt; die Rechte war nicht, wie vorhergesagt, zu Staub zerfallen, und die Linke hatte sich von ihrer Niederlage erholt und organisierte sich neu. Die Kräfteverhältnisse waren dreigeteilt: Rechte, Mitte und Linke.
Am Ende der Amtszeit von Frei Montalva war das Land in Aufruhr. Die Rechte wünschte eine Revanche, sie fühlte sich um ihre Besitztümer gebracht und fürchtete, ihre angestammte Machtposition für immer zu verlieren, während weite Teile der unteren Bevölkerungsschichten große Vorbehalte gegenüber den Christdemokraten hegten, von denen sie sich nicht vertreten fühlten. Jedes Lager stellte einen Kandidaten auf: die Rechte Jorge Alessandri, die Christdemokraten Radomiro Tomic und die Linke Salvador Allende.
Die Linksparteien hatten sich zur Unidad Popular zusammengeschlossen, und an diesem Bündnis war auch die kommunistische Partei beteiligt. Das beunruhigte die USA, und obwohl die Umfragen einen Sieg der Rechten vorhersagten, steckten sie mehrere Millionen Dollar in den Wahlkampf gegen Allende. Die politische Dreiteilung des Landes führte dazu, daß Allende und sein Projekt des »chilenischen Wegs zum Sozialismus« mit achtunddreißig Prozent der Stimmen knapp gewann. Da er die absolute Mehrheit verfehlthatte, mußte Allendes Wahl vom Kongreß bestätigt werden. Es war Tradition, daß derjenige zum Präsidenten ernannt wurde, der die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt hatte. Allende würde der erste Marxist sein, der durch eine demokratische Wahl zum Regierungschef eines Landes wurde. Die Augen der Welt blickten auf Chile.
Salvador Allende Gossens war ein charismatischer Mann, er war Arzt und schon in jungen Jahren Gesundheitsminister gewesen, dann lange Zeit Senator und der ewige Präsidentschaftskandidat der Linken. Er
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