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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Präsidenten und Politiker der Oberschicht, danach war auch die Mittelschicht an der Regierung beteiligt. Die Arbeiterklasse war dagegen kaum vertreten. Einige Präsidenten besaßen ein soziales Gewissen, waren erschüttert von den ungleichen und ungerechten Lebensbedingungen und dem im Volk herrschenden Elend, persönlich darunter gelitten hatten sie jedoch nie. Heute gehören der Präsident und die meisten Politiker, mit Ausnahme mancher Vertreter der Rechten, nicht zu der wirtschaftlichen Machtelite, die das Land tatsächlich kontrolliert. Zur Zeit erleben wir die widersprüchliche Situation, daß ein sozialistischer Präsidentmit einer Koalition aus Mitte- und Linksparteien (Concertación) regiert, an der neokapitalistischen Ausrichtung der Wirtschaft jedoch nicht gerührt wird.
    Die konservative Oligarchie lenkte das Land in feudaler Geisteshaltung bis 1920. Eine Ausnahme war der liberale José Manuel Balmaceda, der 1891 Präsident wurde. Er hatte ein Gespür für die Nöte des Volkes und versuchte einige Reformen gegen die Interessen der Grundbesitzer durchzusetzen, obwohl er selbst aus einer mächtigen Familie stammte, die ausgedehnte Latifundien besaß. Im konservativen Parlament stieß er auf erbitterte Opposition, es kam zur gesellschaftlichen und politischen Krise, die Marine schlug sich auf die Seite des Parlaments, und der folgende blutige Bürgerkrieg endete mit dem Sieg des Parlaments und dem Selbstmord von Balmaceda. Doch die Saat der sozialen Idee war ausgebracht, und in den folgenden Jahren wurden die radikale und die kommunistische Partei gegründet.
    1920 wurde erstmals ein Präsident gewählt, der sich die soziale Gerechtigkeit auf die Fahne geschrieben hatte: Arturo Alessandri Palma, genannt »der Löwe«, ein Kind italienischer Einwanderer und Vertreter der Mittelschicht. Obwohl seine Familie nicht reich war, hatte er durch seine europäische Herkunft, seine Bildung und Kultur wie selbstverständlich Eintritt in die führenden Kreise gefunden. Er erließ Sozialgesetze, und unter seiner Regierung organisierten sich die Arbeiter und fanden Zugang zu politischen Parteien. Durch eine Änderung der Verfassung wollte Alessandri eine Demokratie etablieren, die den Namen verdiente. Das wußte die konservative Opposition jedoch zu verhindern, obwohl er von der Mehrheit der Chilenen und vor allem von der Mittelschicht unterstützt wurde. Das Parlament (schon wieder das Parlament!) machte ihm das Regieren unmöglich, zwang ihn zur Abdankung und trieb ihn ins Exil nach Europa. Verschiedene Militärjuntas versuchten sich danach an der Regierung, konnten das Landjedoch nicht in ein ruhiges Fahrwasser lenken und beugten sich schließlich der Forderung des Volkes nach einer Rückkehr des Löwen, der seine Amtszeit mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung beendete.
    Die Streitkräfte, die sich von der Macht ausgeschlossen fühlten und glaubten, das Land stehe wegen der im 19. Jahrhundert errungenen Siege tief in ihrer Schuld, setzten mit Gewalt die Präsidentschaft von General Carlos Ibáñes del Campo durch. Ibáñez ergriff rasch diktatorische Maßnahmen, die den Chilenen bis dahin fremd gewesen waren, und rief damit den breiten Widerstand der Bevölkerung hervor, wodurch das Land schließlich lahmgelegt war und der General im Juli 1931 abdanken mußte. Darauf folgte eine Periode, die man als gesunde Demokratie bezeichnen kann. Die Parteien bildeten Allianzen, und mit Präsident Pedro Aguirre Cerda gelangte die linke Frente Popular, der sich unter anderem die kommunistische und die radikale Partei angeschlossen hatten, an die Macht. Ihm folgten drei Präsidenten der radikalen Partei, bis im Jahr 1952 der einst besiegte Diktator Ibáñez, der ins linke Lager gewechselt war, erneut zum Staatsoberhaupt gewählt wurde. (Obwohl ich damals noch eine Rotznase war, erinnere ich mich an die Beerdigungsstimmung in meiner Familie nach der neuerlichen Wahl von Ibáñez. Aus meiner Ecke unter dem Klavier hörte ich die apokalyptischen Verheißungen meines Großvaters und meiner Onkel; ich verbrachte schlaflose Nächte, überzeugt, die feindlichen Heerscharen würden unser Haus niederreißen. Nichts geschah. Der General hatte seine Lektion gelernt und hielt sich an die Gesetze.) Zwanzig Jahre hindurch war das Land von Mitte-Links-Bündnissen regiert worden, als die Rechte 1958 mit ihrem Kandidaten Jorge Alessandri die Wahl gewann. Er war der Sohn des Löwen und grundverschieden von seinem Vater. Der Löwe war ein

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