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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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euphorisch – Parolen wurden gerufen, Fahnen geschwenkt, man lag sich in den Armen –, aber zu Ausschreitungen kam es nicht, und gegen Morgen gingen die Demonstranten, heiser vom Singen, nach Hause. Am nächsten Tag bildeten sich lange Schlangen vor den Banken und Reisebüros der Reichenviertel: Viele Leute hoben ihr Geld ab und kauften Tickets, um ins Ausland zu flüchten, weil sie überzeugt waren, das Land sei nun auf demselben Weg wie Kuba.
    Um der sozialistischen Regierung den Rücken zu stärken, kam Fidel Castro zu Besuch, was die Panik der Opposition noch anheizte, vor allem, als man sah, welcher Empfang dem streitbaren Staatsgast bereitet wurde. In Massen waren die Menschen den Aufrufen von Gewerkschaften, Schulen, Berufsverbänden, Parteien und anderen gefolgt undsäumten die Straße vom Flughafen in die Stadt mit Fahnen, Transparenten und Musikkapellen. Dazu kam ein Meer von Schaulustigen, die einfach neugierig waren und von derselben Begeisterung erfaßt wurden, mit der sie Jahre später den Papst willkommen heißen sollten. Der Besuch des bärtigen kubanischen Revolutionsführers zog sich übermäßig hin: Achtundzwanzig lange Tage bereiste er gemeinsam mit Salvador Allende das Land von Nord nach Süd. Ich glaube, wir atmeten alle auf, als er wieder heimfuhr; wir waren erschöpft, aber es läßt sich nicht leugnen, daß die kubanische Delegation für eine Atmosphäre voller Musik und Lachen gesorgt hatte; die Kubaner waren hinreißend. Zwanzig Jahre später sollte ich die Exilkubaner in Miami kennenlernen und feststellen, daß sie genauso bezaubernd sind wie die auf der Insel. Wir Chilenen, immer so ernst und getragen, kamen aus dem Staunen nicht heraus: Nie hätten wir gedacht, daß man das Leben und die Revolution so heiter nehmen konnte.
    Die Unidad Popular war populär, aber einig war sie nicht. Die Parteien der Koalition stritten wie Hunde um die Wurstzipfel der Macht, und so sah sich Allende nicht nur mit der Opposition der Rechten, sondern auch mit Kritikern aus den eigenen Reihen konfrontiert, denen die Reformen nicht schnell und nicht weit genug gingen. Arbeiter besetzten Fabriken und Landgüter, weil sie es leid waren, auf die Verstaatlichung von Privatunternehmen und auf die Ausweitung der Agrarreform zu warten. Die Sabotageakte der Rechten, die Einmischung der USA und die Fehler der Regierung Allende lösten eine gravierende soziale, wirtschaftliche und politische Krise aus. Die Inflation erreichte offiziell dreihundertsechzig Prozent, wobei die Opposition versicherte, tatsächlich liege sie bei über tausend Prozent, das heißt, eine Hausfrau konnte beim Aufstehen am Morgen nicht wissen, was das Brot für den Tag kosten würde. Die Regierung setzte Preise für die wichtigsten Güter destäglichen Bedarfs fest; Industrielle und Landwirte gingen Konkurs. Es mangelte an allem, für ein mageres Hühnchen oder eine Tasse Öl mußte man stundenlang anstehen, aber wer zahlen konnte, fand, was er wollte, auf dem Schwarzmarkt. In ihrer zurückhaltenden Art, zu reden und sich zu benehmen, bezeichneten die Chilenen eine Schlange auch dann noch als »klein«, wenn sie über drei Straßenzüge ging, und aus reiner Gewohnheit stellten sie sich an, auch wenn sie nicht wußten, was da verkauft wurde. Rasch entwickelte sich eine Psychose der Unterversorgung, und kaum daß mehr als drei Leute aufeinandertrafen, stellten sie sich automatisch hintereinander. Auf diese Weise kaufte ich Zigaretten, obwohl ich nie geraucht habe, und kam an elf Dosen farbloser Schuhwichse und ein Faß Sojaextrakt, von dem ich keinen Schimmer habe, wofür es gut ist. Es gab berufsmäßige Schlangesteher, die für etwas Kleingeld anderen den Platz freihielten; wenn mich nicht alles täuscht, haben meine Kinder auf die Art ihr Taschengeld aufgebessert.
    Trotz der Probleme und des Klimas dauernder Auseinandersetzung herrschte im Volk Aufbruchstimmung, weil man spürte, daß man das eigene Los erstmals selbst in der Hand hatte. Künste und Folklore erlebten eine wahre Renaissance, Studentenvereinigungen und Gewerkschaften hatten nie gesehenen Zulauf. Massen von Freiwilligen brachen in die letzten Winkel Chiles auf, um die Bevölkerung zu alphabetisieren; Bücher wurden zum Preis von Zeitungen verlegt, jede Familie sollte eine Bibliothek haben können. Die rechtslastige Wirtschaft, die Oberschicht und ein Teil der Mittelschicht, vor allem die Hausfrauen, die unter den Versorgungsengpässen und dem Chaos litten, haßten Allende und

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