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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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eine gemeinsame Religion, denn Katholiken und Protestanten haben sich jahrhundertelang bekämpft – auch mit Waffen, und gemeinsam haben sie die Juden und die Muslime verfolgt und unterdrückt. Wohl aber haben wir eine große Zahl gemeinsamer Grundwerte. Wir sind alle von der Notwendigkeit der Grundrechte überzeugt. Wir sind gemeinsam Kinder der Aufklärung. Wir haben unsere Staaten und unsere Kirchen und Religionsgemeinschaften voneinander getrennt. Wir haben alle innerhalb unserer Staaten ein System der Gewaltentrennung etabliert. Wir sind gemeinsam von den Vorzügen der parlamentarischen Demokratie überzeugt. Und darüber hinaus haben wir die Musik gemeinsam, die Kunst und große Teile unserer Literatur. Wir dürfen stolz von einer gemeinsamen europäischen Zivilisation sprechen, die sich mit bedeutenden Ausläufern sogar auf Russland, auf Nord- und Südamerika und auf andere Teile der Welt auswirkt.
    Inzwischen hat sich die Lage der Welt gewaltig verändert. Wir erleben die wachsende Bedeutung Chinas, Indiens, Russlands, Brasiliens oder der OPEC für die Weltwirtschaft. Wir erleben den stetigen Aufstieg bisheriger Entwicklungs- und Schwellenländer. Wir erleben gleichzeitig eine wissenschaftliche, eine technologische und eine ökonomische Globalisierung, eine Globalisierung der Angebote und der Nachfragen. Und wir müssen wissen: Am Ende des 21 . Jahrhunderts werden wir Europäer nur noch etwa fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.
    Es geht im 21 . Jahrhundert um die Selbstbehauptung der europäischen Zivilisation. Dabei haben wir Europäer vom Schuman-Plan des Jahres 1950 bis zum heutigen Stand der Europäischen Union sechs Jahrzehnte benötigt. In dieser schrittweisen Anstrengung haben wir mit der Schaffung der gemeinsamen Euro-Währung einen wichtigen Schritt nach vorn getan. Unsere gemeinsamen Institutionen dagegen sind allzu kompliziert geraten, und das Europäische Parlament hat allzu geringe Befugnisse. Vor allem fehlt es an einer gemeinsamen ökonomischen Politik, gegenwärtig ganz besonders mit Blick auf die Verschuldung der Mitgliedsstaaten – eine zwangsläufige Folge der von den USA ausgehenden Krise der Geld- und Kapitalmärkte.
    Spätestens in 18  Monaten beginnt in den USA der Wahlkampf um den Präsidenten und den Kongress. Es könnte passieren, dass eine ganz andere politische amerikanische Führung uns Europäer in neue weltökonomische und weltpolitische Schwierigkeiten stürzt. Nicht zuletzt wegen dieser Eventualität stehen die europäischen Politiker unter Zeitdruck.
    Wer in dieser Lage lediglich taktiert und finassiert, wer gar jedwedes Auseinanderfallen des Euro-Verbundes öffentlich diskutiert, dem fehlt jede Weitsicht. Allein die bloße Absicht der Wiederherstellung nationaler Währungen würde sogleich einige südeuropäische Währungen ins Bodenlose abwerten und umgekehrt eine wiederhergestellte D-Mark kolossal aufwerten, damit den deutschen Export schwer behindern, die Basis unseres hohen sozialen Wohlstandes, und ungezählte deutsche Arbeitsplätze vernichten. Dem momentanen Popularitätserfolg würde ein endloser Katzenjammer folgen. Deshalb haben EZB -Präsident Jean-Claude Trichet und Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker beide recht. Wir Europäer können die früheren Fehler nicht ungeschehen machen, wohl aber müssen wir alsbald ziemlich unkonventionelle Reparaturen ins Werk setzen.
    Selbstverständlich werden die notwendigen Reparaturen abermals Geld kosten. Selbstverständlich werden sie insbesondere uns Deutsche abermals viel Geld kosten. Wir sind schließlich eine der größten und zugleich eine der sozialpolitisch und finanzpolitisch leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt. Wenn wir Deutschen im 19 . Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts erheblich zum Unfrieden in Europa und in der Welt beigetragen haben, dann müssen wir in der heutigen Situation auf eine ganz andere Weise dazu beitragen, dass die Schrecken der Vergangenheit sich nicht wiederholen können. Dafür sind weitere Opfer an Souveränität und an Geld geboten.
    Es ist nicht visionärer Idealismus, sondern unser eigenes strategisches Interesse an der Aufrechterhaltung der Europäischen Union und damit der europäischen Zivilisation, das uns bewegen muss, auf kleine nationalegoistische Vorteile zu verzichten. Auf lange Sicht trägt Deutschland einen hohen Anteil an der Verantwortung dafür, dass die europäischen Staaten zu einem ökonomisch handlungsfähigen

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