Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Skepsis und den Widerstand unserer Nachbarn gegen die Wiedervereinigung zu überwinden.
Schließlich haben unsere Nachbarn damit Deutschland zum volkreichsten Mitgliedsstaat der Europäischen Union gemacht und zugleich zu ihrer größten Volkswirtschaft. Heute ist Deutschland doppelt so groß wie Polen, achtmal so groß wie die Tschechische Republik, fünfmal so groß wie Holland, fünfzehnmal so groß wie Dänemark, und unsere Volkswirtschaft ist die viertgrößte der ganzen Welt. Diese angesichts der bisherigen Geschichte einmalige Größenordnung unseres Vaterlandes muss uns drängen zur Rücksichtnahme auf unsere vielen Nachbarn und auf unsere EU -Partner.
Wenn ein dicker und fetter Nachbar sich gegenüber einem kleineren Nachbarn anmaßend benehmen sollte, dann weckt er bei dem Nachbarn Ängste und Abneigung.
Wenn dann noch die Erinnerung an die deutsche Besatzung und ihre Verbrechen im letzten Weltkrieg hinzukommen sollte, wenn obendrein der Genozid an den Juden keineswegs vergessen ist, dann kann daraus Unheil für beide Nachbarn entstehen.
Aber auch dann, wenn wir Deutschen uns wieder einmal in übertriebener Weise ängstigen lassen sollten, zum Beispiel heute wegen der Zukunft der Weltwährung Euro, so kann sich daraus die Versuchung zu einem deutschen Alleingang ergeben. Jedoch dürfen wir solcher Versuchung nicht nachgeben. Vielmehr muss die Rücksichtnahme auf unsere Nachbarn und Partner Vorrang behalten. Unser Feld ist nicht die Weltpolitik und nicht die atomare globale Strategie, nicht Asien, nicht der Nahe und Mittlere Osten oder Afrika, sondern unsere europäischen Nachbarn sind unser Arbeitsfeld.
Der Ausbau der Europäischen Union geschieht nicht aus Idealismus. Sondern für uns Deutsche ist er eine strategische Notwendigkeit. Das vereinigte Deutschland hat die Einbindung in die Gemeinschaft der Europäer dringend nötig. Unsere Regierung darf dabei niemals vergessen: Ohne Frankreich bliebe alle Arbeit an der Integration erfolglos.
Wenn die EU gegenwärtig als weitgehend handlungsunfähig erscheint, dann liegen die Ursachen in den Fehlern, die man seit der großen Wende gemacht hat – genauer gesagt: seit Maastricht 1991 / 92 . Paris und Berlin waren gleicherweise an manchen dieser Fehler beteiligt. Wenn diese beiden Regierungen aber darüber hinaus neuerdings bei der Lösung akuter Probleme sogar gegeneinander operieren, dann können beide gemeinsam schuldig werden gegenüber allen anderen Nachbarn.
Jede Bundesregierung muss wissen: Niemand darf es riskieren, die deutsche Zuverlässigkeit in den Augen unserer Nachbarn und Partner zu verspielen.
Ohne den Euro ist alles nichts ( 2010 )
Das Taktieren der Bundesregierung in der Griechenland-Krise führte im Laufe des Jahres 2010 zu immer neuen Verunsicherungen, insbesondere in den Ländern, die dringend auf Finanzhilfen aus Brüssel angewiesen waren. Zum Jahresende erinnerte Helmut Schmidt deshalb noch einmal daran, dass seit Gründung der Bundesrepublik die europäische Integration zu den unverzichtbaren Faktoren der deutschen Außenpolitik, zu deren wichtigsten strategischen Interessen zählte.
Er verschwieg nicht, dass die notwendigen Reparaturen der Krise den Deutschen abermals Opfer abverlangen würden. Und er wiederholte, was er 35 Jahre zuvor als Bundeskanzler in ähnlichem Zusammenhang schon einmal gefordert hatte: Dass die Politiker die Pflicht haben, den Bürgern zu erklären, warum diese Opfer im Interesse Europas sowie im eigenen Interesse notwendig sind.
D as Jahr 2010 hat unsere Bundesregierung nicht ganz auf der Höhe der Zeit gezeigt – nicht in Sachen Europa und nicht in Sachen Euro. Wer sich als Europäer an die Behandlung der griechischen Schuldenkrise erinnert, an die deutschen Vorwürfe und an die Bekundungen deutscher Sparsamkeit, der hätte sich stattdessen damals die Erklärung durchgreifender deutscher Hilfsbereitschaft gewünscht.
Durchgreifend in mehrfachem Sinne, nämlich erstens die Gläubiger griechischer Staats- und Bankschulden durch ein großzügiges Hilfsangebot überzeugend; zweitens an Bedingungen gekoppelt für das künftige ökonomische und fiskalische Verhalten Griechenlands; und drittens damit zugleich den global spekulierenden privaten Finanzinstituten die prinzipielle Hilfsbereitschaft auch für spätere andere Fälle signalisierend. Stattdessen hat die deutsche Unentschlossenheit eine Phase gemeineuropäischer Entschlusslosigkeit herbeigeführt und dadurch zur Spekulation gegen Irland, Portugal
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