Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Land hat in Europa mehr zu verlieren als Deutschland, das wirtschaftsstärkste Land Europas.
In diesen Tagen, in denen es immer um Milliarden geht, müssen aber auch zweieinhalb Jahrtausende der Geschichte eine Rolle spielen. Griechenland ist das Mutterland der Demokratie – und der Renaissance und der Aufklärung! Ein ganz großer Teil der europäischen Zivilisation beruht auf den Leistungen großer Griechen. Ohne Homer, ohne Euripides, ohne Sophokles – was wären wir denn? Ohne Sokrates, Platon, ohne Aristoteles? Oder ohne Perikles? Einige der heutigen Spitzenkräfte in Athen mögen korrupt sein, aber ihre Urahnen und ihre Geschichte verdienen Respekt. Wer einmal den Poseidon-Tempel auf Kap Sounion oder die Akropolis erlebt hat, wird das nie vergessen.
In langen Zeiträumen denken ( 2011 )
Am 4 . Dezember 2011 hielt Helmut Schmidt auf dem Bundesparteitag der SPD in Berlin eine flammende Europarede. Er würdigte die Europäische Union als eine in der Geschichte einmalige politische Leistung, wandte sich gegen jede Form von deutscher Kraftmeierei und rief dazu auf, mit jenen Nachbarn und Partnern, die heute – auch aufgrund von Versäumnissen in Brüssel selbst – in Bedrängnis sind, »ein mitfühlendes Herz« zu haben.
I m Blick auf alle Parteipolitik bin ich altersbedingt schon jenseits von Gut und Böse angekommen. Schon lange geht es mir in erster und in zweiter Linie um die Rolle unserer Nation im unerlässlichen Rahmen des europäischen Zusammenschlusses.
Als inzwischen sehr alter Mann denkt man naturgemäß in langen Zeiträumen – sowohl nach rückwärts in der Geschichte als ebenso nach vorwärts in die erhoffte und erstrebte Zukunft. Gleichwohl habe ich vor einigen Tagen auf eine sehr einfache Frage keine eindeutige Antwort geben können. Wolfgang Thierse hatte mich gefragt: »Wann wird Deutschland endlich ein normales Land?« Und ich habe geantwortet: In absehbarer Zeit wird Deutschland kein »normales« Land sein. Denn dagegen steht unsere ungeheure, aber einmalige historische Belastung. Und außerdem steht dagegen unsere demographisch und ökonomisch übergewichtige Zentralposition inmitten unseres kleinen aber vielfältig nationalstaatlich gegliederten europäischen Kontinents.
Auch wenn in einigen wenigen der rund vierzig Nationalstaaten Europas das heutige Nationenbewusstsein sich erst verspätet entfaltet hat – so in Italien, in Griechenland und in Deutschland –, so hat es doch überall und immer wieder blutige Kriege gegeben. Man kann diese europäische Geschichte – von Mitteleuropa aus betrachtet – auch auffassen als eine schier endlose Folge von Kämpfen zwischen Peripherie und Zentrum und umgekehrt zwischen Zentrum und Peripherie.
Heutzutage sind die konfligierenden territorialen Ansprüche, die Sprach- und Grenzkonflikte, die noch in der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts im Bewusstsein der Nationen eine sehr große Rolle gespielt haben, de facto weitgehend bedeutungslos geworden, jedenfalls für uns Deutsche.
Während im Bewusstsein der öffentlichen Meinung und in der veröffentlichten Meinung in den Nationen Europas die Kenntnis und die Erinnerung der Kriege des Mittelalters weitgehend abgesunken sind, so spielt doch die Erinnerung an die beiden Weltkriege des 20 . Jahrhunderts und an die deutsche Besatzung immer noch eine sehr große Rolle.
Für uns Deutsche scheint mir entscheidend zu sein, dass fast alle Nachbarn Deutschlands – und außerdem fast alle Juden auf der ganzen Welt – sich des Holocaust und der Schandtaten erinnern, die zur Zeit der deutschen Besatzung in den Ländern der Peripherie geschehen sind. Wir Deutschen sind uns nicht ausreichend im klaren darüber, dass bei fast allen unseren Nachbarn wahrscheinlich noch für viele Generationen ein latenter Argwohn gegen die Deutschen besteht.
Auch die nachgeborenen deutschen Generationen müssen mit dieser historischen Last leben. Sie können ihr nicht entgehen. Und die heutigen dürfen nicht vergessen: Es war der Argwohn gegenüber einer zukünftigen Entwicklung Deutschlands, der 1950 den Beginn der europäischen Integration begründet hat …
Je mehr im Laufe der sechziger, der siebziger und achtziger Jahre die damalige Bundesrepublik ökonomisch, militärisch und politisch an Gewicht zugenommen hat, umso mehr wurde in den Augen der westeuropäischen Staatslenker die europäische Integration zu einer Rückversicherung gegen eine abermals denkbare machtpolitische Verführbarkeit der Deutschen. Der
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