Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Ergebnis einer Volksabstimmung), träte möglicherweise eine Lage ein, die dem gegenwärtigen Stillstand ähnelt. Dies könnte zum Ausscheiden einiger Mitglieder, sogar zum Zerbrechen der EU führen. Falls aber die Verfassung zustande käme, wäre die Handlungsfähigkeit der EU vermutlich auf einige Jahrzehnte gesichert.
Die Handlungsfähigkeit würde sich allerdings nur in Ausnahmefällen auf außen- und weltpolitische Problemstellungen erstrecken. Bis zu einer umfassenden gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dürften noch Jahrzehnte verstreichen. Denn es ist nicht vorstellbar, dass Frankreich und England die nationale Hoheit über ihre Nuklearwaffen oder ihr Vetorecht im Sicherheitsrat der UN aufgeben (und das am nationalen Prestige orientierte Verlangen nach einem ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat wirkt in gleicher Richtung); genauso wenig ist es vorstellbar, dass alle Mitgliedsstaaten auf ihre Außenministerien und ihre diplomatischen Vertretungen in aller Welt verzichten. Gleichwohl wäre eine gemeinsam akzeptierte Verfassung die bei weitem beste Voraussetzung dafür, dass die Europäische Union zumindest auf allen ökonomischen Feldern die Interessen Europas wirksam verfolgen und darüber hinaus auf manch anderem Gebiet sich behaupten kann.
Unabhängig davon, welche der genannten Entwicklungen eintrifft, wird sich in der täglichen Praxis vermutlich ein innerer Kern der EU herausbilden; dieser wird mit Sicherheit Frankreich und Deutschland umfassen und wahrscheinlich auch die anderen Gründungsstaaten Italien, Holland, Belgien und Luxemburg.
Europa wächst und wächst. Es wird dadurch nicht stärker.
Stetigkeit und Zuverlässigkeit: ein Appell ( 2010 )
Die im Zuge der Griechenland-Krise im Frühjahr 2010 offenbar werdende Unentschlossenheit und Wankelmütigkeit der Bundesregierung veranlasste Helmut Schmidt im Juli zu einem Aufruf, die beiden Grundpfeiler, auf denen die deutsche Außenpolitik seit Gründung der Bundesrepublik ruhe, nicht umzustoßen: Stetigkeit und Zuverlässigkeit. Das Bekenntnis zur europäischen Integration sei seit sechzig Jahren selbstverständlicher Bestandteil der (west)deutschen Staatsräson.
D ie Zukunft der Europäischen Union und die Rolle Deutschlands in Europa werden seit der Griechenlandkrise lebhaft diskutiert. Es liegt mir am Herzen, in diesem Zusammenhang an eine gute Tradition der Bundesrepublik zu erinnern: an die Kontinuität ihrer Außen- und Sicherheitspolitik.
Während des erbitterten Streits zwischen dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer und seinem sozialdemokratischen Gegenspieler Kurt Schumacher wie auch zwischen unseren politischen Parteien hat in den fünfziger Jahren kaum jemand damit gerechnet, dass nicht nur alle späteren CDU -Regierungen, sondern ebenso auch alle SPD -Regierungen die durch Adenauer erfolgte Bindung der Bundesrepublik an das atlantische Bündnis und an die europäische Integration fortsetzen würden. Trotz des langen Streits über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik hat von 1969 an die Regierung von Brandt den Aufbau der Bundeswehr fortgesetzt und sie sogar modernisiert. Kaum einer hat erwartet, dass die Regierung Kohl die Brandtsche Ostpolitik anstandslos fortsetzen würde.
Das Gleiche gilt für den unter Brandt völkerrechtlich vollzogenen Verzicht auf atomare Waffen für die Bundeswehr. Die CDU / CSU war vehement gegen diesen Verzicht, aber als sie 1982 wieder an die Regierung kam, hat Kanzler Kohl nicht etwa erwogen, den Nichtverbreitungsvertrag über atomare Waffen wieder zu kündigen. Ebenso hat Kohl schließlich die durch meine Unterschrift in Helsinki erfolgte Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze bestätigt.
Und last, but not least: Sechzig lange Jahre haben alle Regierungen unseres Staates ohne Ausnahme sich zur europäischen Integration nicht nur bekannt, sondern sie haben tatkräftig dazu beigetragen.
Diese seit Jahrzehnten anhaltende deutsche Stetigkeit, unsere zuverlässige Berechenbarkeit ist zu einem von mehreren unverzichtbaren Faktoren des in Europa anhaltenden Friedens geworden – und zugleich zu einem von mehreren unverzichtbaren Faktoren, die heute vor zwanzig Jahren die deutsche Vereinigung möglich gemacht haben. Es war der für alle unsere europäischen Nachbarn historisch einmalige neue Eindruck stetiger deutscher Zuverlässigkeit, es war die Erfahrung deutscher Zuverlässigkeit – und dazu das Beispiel Gorbatschows –, die es Bush senior und Helmut Kohl ermöglicht haben, die
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