Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
aufgebracht werden mussten.
Die Wirkung dieses Schocks war die Erkenntnis, dass die Organe der Gemeinschaft finanzbewusster gemacht werden müssen. Wir wollen, dass in Zukunft vor der Haushaltsaufstellung die Prioritäten der Aufgaben politisch gesetzt werden – natürlich auf Vorschlag der Kommission. Für jede Aufgabe muss eine Kostenvorschätzung erfolgen. Sodann wird – nach Prioritäten geordnet – die Einnahmeseite des Gemeinschaftshaushaltes festgelegt, also zum Beispiel Zölle + Abschöpfungen + 0 , 5 Prozent der Mehrwertsteuer.
Diese Festlegung soll verbindlich sein. Das heißt: Weder der Rat noch die Kommission sollen im Laufe des Haushaltsjahres von sich aus neue Maßnahmen beschließen dürfen, die einen Haushaltsmehrbedarf erfordern. Neue Maßnahmen sollen nur noch dann beschlossen werden dürfen, wenn zugleich die zusätzlichen Mittel bereitgestellt werden.
Zunächst wird die verstärkte Kontrolle der Finanzen der Gemeinschaft Sache des Ministerrates bleiben müssen. Es geht aber nach meiner Auffassung auch nicht ohne eine Ergänzung des Aufbaues der Kommission. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass ein Finanzkommissar berufen werden sollte. Er kann seine finanzielle Verantwortung aber nur dann tragen, wenn er nicht zugleich ausgabeorientierte Funktionen wahrnimmt. Dieser Finanzkommissar wäre das kommissionsinterne Korrektiv gegen allzu üppige Ausgabenwünsche.
Wir plädieren ferner für eine unabhängige externe Finanzkontrolle durch einen Rechnungshof der europäischen Gemeinschaften mit echten materiellen Prüfungskompetenzen.
Und wir halten es auch für unausweichlich, dass das Europäische Parlament als das demokratische Organ der Gemeinschaft in seinen Befugnissen gestärkt wird. Das heißt für mich: Einschaltung in den Entscheidungsprozess auf jeder Stufe. Nur so verbessern wir die demokratische Legitimation dessen, was in Europa heute geschieht.
Ich denke, dass dieses Gedankenmodell sich um eine vernünftige Ordnung der europäischen Finanzen bemüht und dass wir von daher auch die Sache der gemeinsamen europäischen Politik schärfer ins Auge fassen können.
In dieser Sache Europa – da habe ich keine Illusionen – bleibt noch viel zu tun, selbst wenn wir uns nach allen Erfahrungen, die wir gemacht haben, etwas mehr Zeit nehmen.
Aber die europäische Politik bleibt aufgerufen, die Weiterentwicklung der Völker dieses Kontinents im Rahmen einer gemeinsamen politischen Ordnung zu sichern. Darüber hinaus fordern gerade die uns alle berührenden Probleme der jüngsten Zeit – die Energiekrise oder der Zustand des Weltwährungssystems – den koordinierten eigenständigen Beitrag von uns Europäern, nicht allein von den Franzosen, den Engländern oder den Deutschen.
Die Ölversorgungskrise mit ihren phantastischen Preissteigerungen kann ziemlich bald die Grundlagen der internationalen Arbeitsteilung erschüttern: die Währungsrelationen, den Handelsaustausch, die Zahlungsbilanzen. Auch die Entwicklungsländer der Dritten Welt sind mindestens so hart betroffen wie die Industrieländer. Die Gefahr enormer Leistungsbilanzdefizite veranlasst mich zu der dringenden Warnung, keinen Wettlauf von Abwertungen in Gang zu setzen oder Beschränkungen des Handelsverkehrs einzuführen. Gerade jetzt sollten wir nicht Zuflucht suchen zu isolierten Aktionen.
Wenn Europa im weltpolitischen Konzert zwischen den Großmächten USA und Ud SSR sowie dem entstehenden Machtzentrum China eine entscheidende Stimme mitsprechen will, muss es sich auf gemeinsame Konzepte einigen. Das Angebot zur Kooperation und zum gerechten Interessenausgleich nach außen wird überzeugender, wenn es vom gleichen Verhalten nach innen bestimmt ist.
Sicher besteht im Kreise der Europäischen Gemeinschaften kein Zweifel daran, dass es keine Alternative zu Europa gibt. Nur nützt diese Grundanschauung so lange nichts, wie wir nicht aufhören zu fragen: Was tut Europa für uns? Und stattdessen fragen: Was können wir für Europa tun?
Großbritannien gehört dazu! ( 1974 )
Nach dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft am 1 . Januar 1973 nahmen die Auseinandersetzungen zwischen Europabefürwortern und Europagegnern im Vereinigten Königreich an Heftigkeit zu. Der konservative Premierminister Edward Heath, der den Beitritt gegen heftige Widerstände durchgesetzt hatte – »der einzige wirkliche ›Europäer‹ unter den britischen Premierministern« (Schmidt) –, verlor bei vorgezogenen Neuwahlen im
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