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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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und Kreditpolitik obliegt in meinem Lande der Bundesbank, die von Weisungen der Regierung unabhängig ist. Solche Eingriffsmöglichkeiten und Zuständigkeiten sind in anderen Gemeinschaftsländern Sache der Regierungen. Deutschland wird deswegen als zu liberal kritisiert. Aber wir haben mit unserer Politik sehr hohe Beschäftigungsraten und die niedrigste Preissteigerungsrate der Gemeinschaft erreicht. Und andererseits haben wir ein umfangreiches System von Sozialleistungen, das für soziale Balance sorgt und das wir jedes Jahr weiter ausbauen.
    Aber ich beklage mich nicht so sehr über unterschiedliche Instrumente, meine Sorge gilt mehr den unterschiedlichen Zielvorstellungen der Wirtschaftspolitik. Unter so unterschiedlichen Bedingungen in dem kurzen Zeitraum bis 1976 eine effiziente Koordinierung der Konjunkturpolitik zu erreichen, halte ich für ziemlich optimistisch. Wollte man diese Koordinierung erzwingen, würde das bedeuten, dass man die Sprunglatte abermals bewusst zu hoch legt.
    Wir werden deshalb gut beraten sein, wenn wir versuchen, wenigstens die jeweiligen konjunkturpolitischen Zielvorstellungen der Mitgliedsstaaten unter möglicher Wahrung des Gemeinschaftsinteresses stetig zu koordinieren.
    Nun sollte angesichts der exemplarischen Beispiele für den problematischen Zustand der Gemeinschaft hier nicht der Eindruck entstehen, als gebe es keine Möglichkeiten der Weiterentwicklung. Es gibt sie. Patentlösungen allerdings gibt es nicht.
    Wenn ich sagte, dass die Gemeinschaft von Krisen lebt, dann heißt das: Krisen tragen letztlich immer zur Weiterentwicklung bei. Aber das ist natürlich kein Ruhekissen, denn Krisen lösen sich nicht von selbst. Krisen sind eine Aufforderung zur Entscheidung.
    Ich sehe Möglichkeiten zur fortschreitenden Integration bei den klassischen Aufgaben eines Finanzministers, nämlich bei der Haushaltsgestaltung und Haushaltsdurchführung der Europäischen Gemeinschaften.
    Es ist doch so: Man hat die Europäischen Gemeinschaften nie mit der Messlatte üblicher internationaler Organisationen messen können. Sie waren von Zielsetzung und Aufgabenstellung her immer mehr als ein bloßer internationaler Zweckverband, der durch die Finanzbeiträge seiner Mitglieder unterhalten wird.
    Europa war von Anfang an als eine neue übernationale politische Ebene konzipiert. Und so war es klar, dass diese neue politische Dimension irgendwann auch einmal ihre eigenen Einnahmen haben würde.
    Jetzt befinden wir uns mitten in diesem Übergang von den ursprünglichen Finanzbeiträgen der Mitgliedsstaaten zu dem System eigener Einnahmen. Ab 1975 soll die Gemeinschaft sämtliche Einnahmen aus den Agrarabschöpfungen und aus den Zöllen erhalten und außerdem höchstens ein Prozent einer einheitlichen Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer, über die allerdings auch noch keine Einigung besteht.
    Die neue Regelung bedeutet zum einen: die Einnahmen sind limitiert. Sie heißt zum anderen: die Einnahmen sind auch dynamisiert, denn sie hängen nun über die Mehrwertsteuer von der wirtschaftlichen Aktivität ab.
    Durch diese limitierte Dynamisierung der Einnahmen steht theoretisch in jedem Jahr ein steigendes Finanzvolumen zur Verfügung. Dieses bedarf nun verstärkt auch der politischen Gestaltung und Kontrolle – es sollte mit anderen Worten auch dynamisch limitiert werden. Denn es hat erhebliche Wirkungen auf die nationalen Finanzen und die nationale Aufgabenerfüllung, die bis in den föderalen Unterbau hineinreichen.
    Das theoretisch mögliche Finanzvolumen wird bei heutiger Aufgabenstellung noch nicht ausgeschöpft. Diese Tatsache verführt zu einem ausgabeorientierten Verhalten. Der Zwang, Prioritäten zu setzen, entfällt weitgehend. Dass jeder zusätzliche Mehrwertsteueranteil, der nach Brüssel überwiesen wird, die Einnahmeseite der nationalen Haushalte schmälert, ohne die Ausgabenseite unbedingt zu entlasten, wird dabei leider allzu gern vergessen.
    Der Haushalt der Gemeinschaft ist überdies in Größenordnungen hineingewachsen, die ihn auch konjunkturpolitisch interessant machen. Auch dieser Aspekt wird bis heute nicht beachtet.
    Es hat wohl erst zu dem heilsamen Schock der vier Nachtragshaushalte des Jahres 1973 kommen müssen, die in Brüssel bewilligt wurden, um diese Zusammenhänge voll bewusst zu machen. Die Nachträge haben den deutschen Bundeshaushalt mit fast einer Milliarde DM an Nachschüssen belastet, die im nationalen Budget nicht zur Verfügung standen, sondern außerplanmäßig

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