Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
sowohl bei dem Festhalten an unseren Positionen in West-Berlin wie auch bei unseren Bemühungen um Ausgleich und Entspannung zuteil geworden ist. Das Vereinigte Königreich hat die Berliner in ihrem Wunsch, in Freiheit zu leben, stets unterstützt.
Einige Jahre lang hatte ich als Bundesminister Gelegenheit, eng mit einer Labour-Regierung in London, vor allem mit Denis Healey, zusammenzuarbeiten, der damals Verteidigungsminister war. Ich kenne Harold Wilson und eine Reihe anderer führender Persönlichkeiten der Labour-Partei seit zwanzig Jahren. Geboren und aufgewachsen in der alten Schifffahrts- und Handelsstadt Hamburg, die sich zuweilen britischer benimmt als die Briten selbst, bin ich immer ein Bewunderer der glorreichen Traditionen und Tugenden britischer demokratischer Institutionen gewesen. In der Praxis der internationalen Beziehungen habe ich außerdem die nüchterne Haltung und die pragmatische Fähigkeit britischer Staatsmänner zur Lösung komplizierter Probleme bewundern gelernt. Dies hat sich auch wieder in der Kommission und im Rat der EWG erwiesen, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sich der wohltuende Einfluss Ihrer Haltung bei der Überwindung von Schwierigkeiten bereits günstig auswirkt. Ich bin dafür dankbar.
Dies bringt mich zur wirtschaftlichen Lage Europas zurück. In den vergangenen Jahren ist die wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern Europas auseinandergegangen. Nach Auffassung meiner Partei gibt es einen wesentlichen Grund für die – relativ gesehen – günstige Entwicklung meines Landes: die wirtschaftliche Grundeinstellung und die Leistungsfähigkeit unserer Gewerkschaften. Die Zahl der Streiks in Deutschland ist niedrig; dennoch ist das Realeinkommen der Arbeitnehmer relativ hoch. Wir haben aus der Zersplitterung der Gewerkschaften in der Zeit der Weimarer Republik gelernt. Die gewählten Arbeitnehmervertreter haben in unseren Unternehmen ein gewichtiges Wort zu sagen. Das anderthalb Dutzend Gewerkschaften und ihr Bund üben einen starken Einfluss auf die Gesetzgebung aus, besonders seit die Sozialdemokraten 1969 führende Regierungspartei geworden sind.
Wir haben die paritätische Mitbestimmung in der Kohle- und Stahlindustrie bereits vor zwanzig Jahren eingeführt. Wir sind heute dabei, die Grundsätze der Mitbestimmung auf die übrige Großindustrie auszudehnen. Das ist ein sehr wichtiger Schritt auf dem Wege zur Gleichheit von Arbeit und Management oder Kapital in unserer Gesellschaft. In den vergangenen beiden Jahrzehnten haben wir unter starkem sozialdemokratischem Einfluss unsere soziale Struktur durch ein immer engeres Netz sozialer Sicherheitsleistungen gefestigt. Wenn es einen besonderen Faktor hinter unserer Wirtschaftsleistung gibt, so liegt er hier. Natürlich bleibt noch viel zu tun. Für Verbesserungen ist in der Welt immer noch am meisten Raum.
Lassen Sie mich auch ein Wort zur Europäischen Gemeinschaft sagen. Nicht weil dies von nahezu allen britischen Zeitungen vorausgesagt wurde; ich muss ein Wort dazu sagen, weil es nicht den Interessen und Erwartungen meiner Partei und meines Landes entspräche, wenn ich den Wunsch Ihrer deutschen Genossen unterdrückte, Sie, die britischen Genossen, auf unserer Seite in der Gemeinschaft zu haben.
Es ist bekanntlich nicht allzu schwer, ein europäischer Politiker zu sein; man braucht nur die Bauern zu befriedigen, die Gewerkschaften und ein paar andere Gruppen zufriedenzustellen und dann noch gewählt zu werden, nicht wahr?
Wir wissen natürlich, dass Ihre Entscheidung noch aussteht und dass sie von dem Ergebnis der Bemühungen Harold Wilsons und Jim Callaghans um eine Neuverhandlung abhängt. Und auch von ein paar anderen Dingen. Ich werde mich nicht in Ihre Entscheidung einmischen und selbstverständlich auch nicht, wie jemand anders gesagt hat, zwölf Uhr mittags aus der Hüfte schießen. Aber, Genossen, angesichts Ihrer gestrigen Abstimmung kann ich nicht ganz umhin, mich in die Lage eines Mannes zu versetzen, der versucht, Damen und Herren der Heilsarmee von den Vorteilen des Trinkens zu überzeugen.
Was ich wirklich sagen möchte, ist nur dies, selbst auf die Gefahr hin, dass manche den Raum verlassen: Ihre Genossen auf dem Kontinent möchten, dass Sie bleiben und Sie werden dies bitte zu erwägen haben, wenn Sie von Solidarität sprechen – Sie müssen es erwägen. Ihre Genossen auf dem Kontinent glauben, dass es in unserem beiderseitigen Interesse ist.
Oft genug haben wir selbst Zweifel an
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