Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Kraft trat.
Die vierte Phase seit Ende der siebziger Jahre brachte den Kalten Krieg zurück, zeitweise den kältesten Krieg. Es dominierte ein Rüstungswettlauf unter Einsatz größter ökonomischer Mittel. Diese vierte Phase des erneuten Kalten Krieges und des fast ungebremsten Rüstungswettlaufs hat zu einer weitgehenden Erosion all derjenigen Politiken der europäischen Staaten geführt, die auf Bewahrung der europäischen Identität gerichtet waren.
An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Exkurs zur deutschen Politik machen. In der vierten Phase des neuen Kalten Krieges sind die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten natürlich in sehr viel höherem Maße von der Qualität der Beziehungen zwischen den beiden Supermächten abhängig, als das in der Entspannungsphase der Fall gewesen war. Wie groß diese Abhängigkeit ist, sieht man etwa an der Absage der Bonner Besuche von Honecker und Schiwkoff oder an der Notwendigkeit, dass Herr Genscher seinen Besuch in Polen absagen musste.
Diesen Beispielen ist eines gemeinsam: Auf westlicher wie auf östlicher Seite haben in letzter Zeit europäische Staaten ihre Handlungsspielräume zum Teil falsch eingeschätzt. Es war zum Beispiel eine Fehleinschätzung des Handlungsspielraums Ost-Berlins, wenn man der DDR zwei Milliardenkredite ins Haus trägt, ohne dass Moskau erkennen kann, für welche Gegenleistung diese eigentlich gegeben werden. Das musste dort tiefsten Argwohn auslösen. Sowohl Kohl als auch Honecker wollten die eingefahrene deutsch-deutsche Politik fortsetzen. Es war gute Absicht auf beiden Seiten; aber es hat an dem realistischen Augenmaß für das Mögliche und auch für das Notwendige gefehlt. Die eigenen Handlungsfreiheiten wurden überschätzt.
Nun sollte aber niemand daran zweifeln – das sage ich besonders für die anwesenden italienischen Teilnehmer –, dass die Deutschen auf beiden Seiten ihre deutsche Identität wahren wollen. Sie wissen aber, dass es wenig Sinn hat, heute von Wiedervereinigung im Sinne einer Wiederherstellung der nationalstaatlichen Einheit zu reden. Wir Deutschen müssen wissen, dass eigentlich alle übrigen Völker, vor allem deren Regierungen, Angst vor einer deutschen Wiedervereinigung haben. Eine endgültige Antwort auf die deutsche Frage kann zweifellos überhaupt nur gefunden werden im Zuge eines erfolgreichen Prozesses des Wiederzusammenwachsens von ganz Europa.
Ich möchte auch einen Exkurs über die Friedensbewegungen in Europa und Nordamerika einfügen. Die Friedensbewegungen, die manches idealistische Motiv antreibt und die auch manches Gute bewirkt haben, laufen Gefahr, einem sehr gefährlichen Missverständnis zu unterliegen. Sie hegen nämlich zum Teil die Erwartung, eine einseitige Teilabrüstung – zum Beispiel nuklear – auf westlicher, sogar nur auf westdeutscher Seite, werde Moskau zu entsprechenden Gegenleistungen bewegen oder gar zwingen. Einige hoffen sogar, Moskau werde dann den machtpolitischen und ideologischen Griff über Osteuropa lockern. Ich fürchte, das genaue Gegenteil ist wahrscheinlich. Einseitige Zugeständnisse werden dort nicht honoriert; es gibt kein Beispiel in den letzten vierzig Jahren, dass sie honoriert worden wären.
Ich glaube übrigens, dass sich der russische Expansionismus geschichtlich über mehrere Jahrhunderte entwickelt hat und auch heute noch vital und ungebrochen ist. Ich sehe heute nur noch den sowjetischen Imperialismus, nachdem alle anderen Imperialismen zusammengebrochen sind: der spanische, der portugiesische, der englische, der französische, der halbherzige amerikanische Imperialismus, vor allem die verspäteten, besonders gewalttätigen Imperialismen der Japaner und der Deutschen in den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts. Nur der großrussische Imperialismus ist noch virulent, er ist bisher nicht an seine endgültigen Schranken gestoßen. Ich halte ihn nicht für vorwiegend kommunistisch, bolschewistisch-ideologisch, sondern vielmehr zu Dreiviertel für großrussisch. Die kommunistischen Parteien in der Welt sind für Andrej Gromyko Instrumente der sowjetischen Außenpolitik, nicht Ziel und nicht Selbstzweck.
Weil das so ist, deshalb bleibt richtig, was George Kennan vor fast vierzig Jahren erkannt hat, nämlich die Notwendigkeit des »containments« der Sowjetunion. Das heißt: Wir brauchen ausreichende machtpolitische Gegengewichte gegen die sowjetische Macht. Genauer gesagt: Es ist ein Gleichgewicht der Macht nötig, wenn man
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