Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
zukünftigen Geschichte behaupten zu können. Gegenwärtig erscheint mir die Selbstbehauptung Europas zumindest gefährdet. Wir können jedenfalls nicht ausschließen, dass die Spaltung Europas endgültig wird. Wir Europäer müssen also etwas tun, um dies zu verhindern. Dazu müssen wir die Bedingungen, die Grenzen und Chancen erkennen, das heißt unsere eigenen Handlungsspielräume richtig einschätzen. Diese Spielräume zu erkennen, hilft vielleicht ein kurzer geschichtlicher Rückblick auf die vierzig Jahre seit Hitlers Krieg. Ich würde dabei vier verschiedene Phasen europäischer Handlungsfreiheit beziehungsweise der Handlungsfreiheit europäischer Staaten unterscheiden.
Die erste sehr kurze Phase umfasste die Jahre 1946 / 47 , also die unmittelbare Nachkriegszeit. Sie war gekennzeichnet durch den Baruch-Plan und den Marshall-Plan sowie durch die vorangegangenen Beschlüsse von Jalta und Potsdam. Eine Teilung Europas in Interessensphären war noch nicht greifbar. Baruch-Plan und Marshall-Plan waren Angebote der westlichen Führungsmacht an alle, die unter dem Krieg gelitten hatten, auch an die Sowjetunion und an die osteuropäischen Staaten, friedliche Bedingungen herzustellen (Baruch-Plan) und wirtschaftlichen Wiederaufbau zu ermöglichen (Marshall-Plan). Die europäischen Staaten – mit Ausnahme der Sowjetunion – verharrten während dieser kurzen Spanne in einer bloßen Objekt-Position; sie handelten nicht selbst. Diese Phase endete spätestens 1947 , und zwar durch die sowjetische Ablehnung der beiden Pläne, durch die sowjetische Machtübernahme in Osteuropa und durch die Aufrechterhaltung einer sehr hohen sowjetischen Rüstung. Der Marshall-Plan wurde auf Westeuropa begrenzt.
Die zweite Phase ist charakterisiert durch das Berlin-Ultimatum, darauf Gründung des Nordatlantikpakts, Konzipierung der Strategie der massiven Vergeltung, Rüstungswettlauf, Kalter Krieg. Diese zweite Phase ab 1947 / 48 hat über ein Jahrzehnt gedauert. Sie fand ihren Höhepunkt und zugleich ihren Abschluss in der Berlin-Krise von 1961 und vor allem in der Kuba-Krise von 1962 . In dieser Phase des Kalten Krieges gab es innerhalb Westeuropas Handlungsfreiheit, die aber nicht über die Grenze nach Osten hinausging. Es kam zur westeuropäischen Integration. Es entstand die europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, vor allem kam es zum Abschluss der Römischen Verträge. Dies alles waren wichtige Voraussetzungen für eine westeuropäische, nicht für eine gesamteuropäische Selbstbehauptung.
Zugleich wurden in Osteuropa – siehe 17 . Juni 1953 in der DDR und Ungarn 1956 – die Staaten fest an die Kandare sowjetischer Machtpolitik gelegt, an sowjetische Ideologie und an die wirtschaftsstrukturelle Übermacht der Sowjetunion gebunden. Mit einem Wort: Die Phase des Kalten Krieges hat die machtpolitische Spaltung Europas, die vielleicht in Potsdam und Jalta angelegt war, konsolidiert. Die Europäer haben sich dagegen nicht zur Wehr setzen können.
Ich erwähnte die Kuba-Krise des Jahres 1962 als Höhepunkt und Schlusspunkt der zweiten Phase, der Phase des Kalten Krieges. Schon vorher hatte im Westen das Nachdenken über die Veränderung der strategischen Situation begonnen, nachdem die Sowjets inzwischen auch Atomwaffen, sogar Wasserstoffwaffen und Raketen besaßen, mit denen sie Amerika treffen konnten. Schon seit Mitte der fünfziger Jahre waren sie in der Lage gewesen, Paris und London mit Raketen zu bedrohen, was ja auch während der Suez-Krise 1956 zum Ausdruck gebracht wurde.
In Amerika begann man, über eine neue militärische Strategie nachzudenken; die bisherige Strategie der massiven nuklearen Vergeltung wurde mit Recht infrage gestellt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den damaligen amerikanischen Generalstabschef, Maxwell Taylor, der dies als Erster in der Öffentlichkeit deutlich machte. Die Erkenntnis des nuklear-strategischen Patts hat auf westlicher Seite – und damit bin ich jetzt schon in der dritten Phase – zu der neuen Militärstrategie, der »flexible response«, geführt. Sie wurde zwar erst 1967 / 68 offiziell im Bündnis akzeptiert, aber de facto schon ab 1961 eingeführt. Zugleich wurde man sich aber angesichts der veränderten militärstrategischen Situation sowohl in Moskau wie auch in Washington der Notwendigkeit bewusst, zu einer Verständigung zu gelangen. So kam es schon in den frühen sechziger Jahren zum ersten Atomteststopp-Vertrag und später dann zum Non-Proliferationsvertrag
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