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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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verhindern will, dass die Sowjetunion auf Machtzuwachs ausgeht. Containment verlangt nach meinem Urteil keineswegs ein Übergewicht auf westlicher Seite, sondern lediglich ausreichende Gegengewichte.
    Das Stichwort Übergewicht führt mich zur weltpolitischen Rolle der Europäer zurück. Die Europäer haben keinen bremsenden Einfluss auf die unerhörte SS - 20 -Überrüstung ausüben können, obschon man in den osteuropäischen Hauptstädten deren schlimme politische Konsequenz voller Sorgen vorhergesehen hat. Auf der anderen Seite haben auch die westeuropäischen Staaten die ab 1981 einsetzende Superioritätsrhetorik und Nuklearrüstung unseres wichtigsten Verbündeten nicht bremsen wollen, geschweige denn bremsen können.
    Ich glaube, ein Hauptgrund für diese Entwicklung liegt in der tiefgreifenden Krise der westeuropäischen Integration. Europa ist seit dem zweiten Ölpreis-Schock von 1979 / 1980 von der Strukturkrise der Weltwirtschaft schwer getroffen. Die europäischen Regierungen denken immer noch, die Landwirtschaft sei das Wichtigste. Sie haben noch nicht begriffen, dass Europa nur 7 , 5 Prozent Landwirte, aber 11 , 5 Prozent Arbeitslose hat. Die Auswirkungen dieser Wirtschaftskrise bringen alle Regierungen, ob rechts, Mitte oder links, in Schwierigkeiten gegenüber ihrer eigenen, nationalen öffentlichen Meinung, gegenüber ihren Wählern und ihren Parlamenten. Sie sind voll beschäftigt mit nationalen Lösungen und Scheinlösungen für Probleme, die nach meinem Urteil tatsächlich national nicht gelöst werden können Es ist bei ihnen keine Kraft mehr für ein konzeptionelles Denken frei, das über die eigenen Grenzen oder gar über die Grenzen Europas hinausweist.
    Europa ist uneinig. Aufgrund seiner Uneinigkeit finanziert es zum Beispiel zu einem wichtigen Teil den amerikanischen Staatshaushalt mit europäischen Ersparnissen. Aufgrund dieser Uneinigkeit ist auch jene operative Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn de facto zum Erliegen gekommen, die einige Integrationsfortschritte während der siebziger Jahre ermöglicht hatte. Selbst dort, wo vielleicht Handlungsmöglichkeiten bestehen, üben die europäischen Regierungen heute keinen wirklichen Einfluss auf die westliche Gesamtstrategie, geschweige denn auf Moskau aus.
    Kardinal König hat in einem Aufsatz, in dem er von der Schwäche Europas in moralischer und religiöser Hinsicht und von einer entscheidenden Schwächung des Willens zum Leben geschrieben hat, richtig diagnostiziert, dass gegenwärtig die Vitalität in Europa nachlässt. Ich sehe das sehr ähnlich. Ob dieser Zustand anhält, weiß ich nicht. Aber mich erstaunt dieses zumindest vorübergehende Absinken der Vitalität nicht. Als in den frühen zwanziger Jahren Oswald Spenglers Buch mit dem Titel »Untergang des Abendlandes« erschien, haben viele Menschen geglaubt, dies sei der Schlüssel für das Verständnis der Zukunft Europas. Doch dann ist Europa immerhin zu einer unglaublichen Kraftanstrengung fähig gewesen, und sei es auch nur zum Zwecke, gegeneinander Krieg zu führen und sich zu töten. In diesem Zusammenhang dürfen wir auch die große Anstrengung des Wiederaufbaus in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vergessen. Vielleicht findet nach alledem gegenwärtig in Europa nur eine Art Erholungspause statt.
    Zurück zu der Notwendigkeit des Gleichgewichts und der strategischen Entspannung: Machtpolitisches Gleichgewicht gegenüber der Sowjetunion auf der einen Seite und, auf dieser Basis, Entspannung und Kooperation mit der Sowjetunion auf einer Reihe von Gebieten auf der anderen Seite. Ich sagte bereits, dass George Shultz zurzeit die Entspannung wiederentdeckt, und Ronald Reagan möchte als Friedensstifter in die Geschichte eingehen. Darin liegt eine Chance; sie zu nutzen, ist aber nur mit einem Minimum an sowjetischer Kooperation möglich. Wie man dies erreicht – und natürlich bekommt man diese Kooperation nicht umsonst, sondern muss dafür bezahlen –, diese Frage ist eines der vielen Themen, über die gegenwärtig in der westlichen Welt nachgedacht werden muss. Der neue Anfang, der sich zwischen Washington und Moskau seit dem Oktober 1984 anbahnt, enthält auch für die Europäer die Chance auf eigene Handlungsspielräume.
    Aber der neue Anfang birgt zugleich auch große Gefahren. Es besteht die Gefahr, dass die gesamteuropäische Schiene, die von Helsinki über Madrid nach Stockholm geführt hat – an der alle europäischen Regierungen beteiligt sind und außerdem

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