Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Kreuzzüge gegen diesen Nachbarn führen. Wir wissen, dass dieser Nachbar zahlreich und mächtig ist, dass er sehr nahe ist und dass er unser Nachbar bleiben wird.
Einer der größten Europäer dieses Jahrhunderts, Winston Churchill, hat in seiner berühmten Zürcher Universitätsrede 1946 gesagt: »Der erste Schritt bei der Neubildung der europäischen Familie muss sein: Zusammengehen zwischen Frankreich und Deutschland. Nur so kann Frankreich die moralische Führung in Europa erlangen. Es gibt kein Wiedererstehen Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ohne ein geistig großes Deutschland.«
Herr Bundeskanzler, Sie haben vielfach Anspruch auf geistig-moralische Führung erhoben. Nach meiner Staatsauffassung ginge dies weit über die Aufgabe einer demokratischen Regierung hinaus.
Wohl aber wird
politische
Führung von Ihnen erwartet. Zur politischen Führung unseres Landes in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gehört es, die in Straßburg ausgestreckte Hand des französischen Präsidenten zu ergreifen. Sie beide können sich dabei auf Winston Churchill berufen, der dann – ich zitiere ihn nochmals – »von der Rettung des einfachen Mannes in Europa« sprach, der Rettung vor Krieg und Tyrannei, und der dazu wörtlich gesagt hat: »Bei diesem so dringend notwendigen Werk müssen Frankreich und Deutschland zusammen die Führung übernehmen.«
Die drohende Spaltung Europas ( 1984 )
Auf Einladung von Papst Johannes Paul II . tagte der Bergedorfer Gesprächskreis im Dezember 1984 im Vatikan. Das Thema der Tagung lautete: »Ist die Spaltung Europas das letzte Wort?« Die beiden Referenten waren der Erzbischof von Wien, Franz Kardinal König, und Helmut Schmidt, der in seinem Vortrag die Entwicklung Europas unter global-strategischen Gesichtspunkten analysierte. Die neue Eiszeit zwischen West und Ost führte Schmidt nicht zuletzt darauf zurück, dass die westeuropäische Integration nicht vorankam und deshalb von Westeuropa auch keinerlei Impulse für die Entspannungspolitik mehr ausgingen.
I n den letzten Jahrzehnten haben Kardinal König und ich bisweilen Gespräche miteinander geführt, und ich habe es immer als beglückend empfunden, dass wir meist weitgehende Übereinstimmung in unseren Ansichten erzielt haben. Das ist heute nicht anders, sodass ich direkt an das, was Kardinal König vorgetragen hat, anschließen kann, so als ob ich es selbst gesagt hätte. Ich möchte mich dabei allerdings mehr der global-strategischen Gegenwart zuwenden.
Ein Fragezeichen bei seinen Ausführungen würde ich lediglich an einer Stelle setzen, ohne das jetzt zu vertiefen: Der Wortgebrauch »Europa vom Atlantik bis zum Ural«, der ja von de Gaulle stammt, wirft erhebliche Probleme auf, insbesondere aus sowjetischer Sicht. Man benötigt für die Wiederherstellung Europas als Ganzes eben auch ein erhebliches Maß an Duldung oder Kooperation von sowjetischer Seite. Die Aussage von Kardinal König am Schluss seines Referats war nicht so definitiv, wie er sie noch vor einiger Zeit in einem Aufsatz mit dem Titel: »Europa auf dem Wege zu sich selbst« vertreten hat. Darin war Europa als Ganzes angesprochen. Heute hat der Kardinal offengelassen, ob diese Möglichkeit, die er für gegeben hielt – ich auch –, verwirklicht werden kann oder nicht. Ich selbst halte es für durchaus fraglich – und bin darüber sehr in Sorge –, ob Europa heute tatsächlich auf dem Wege zu sich selbst ist. Vielleicht müssen wir eines späten Tages einmal erkennen, dass Europa in den achtzigern und neunziger Jahren seine politischen Chancen nicht genutzt hat und dass die machtpolitischen Grenzen, von denen Herr Körber eingangs sprach, so verfestigt worden sind, dass wir Europäer nicht einmal unsere kulturelle Kohärenz voll haben bewahren können.
Niemand weiß die Zukunft vorherzusagen. Es wird von uns Europäern in West und Ost, von dem, was wir in den nächsten Jahren tun und lassen, entscheidend abhängen, ob wir, und wenn ja, wie wir die europäische Kohärenz und Identität wahren und entwickeln können. Dabei können sowohl Hoffnung als auch Treue zur eigenen kulturellen Tradition durchaus eine wichtige Rolle spielen. Aber es gibt nur wenige Beispiele in der Geschichte der Kulturen – vielleicht ist das Judentum überhaupt das einzige Beispiel –, dass Treue zur Selbstbewahrung und Hoffnung allein schon ausreichen. Ich denke vielmehr, es bedarf darüber hinaus auch des eigenen zielgerichteten Handelns, um sich in der
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