Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
für nukleare Waffen.
1967 entstand auch der Harmel-Report, bei dem zum ersten Mal der eigene Handlungsspielraum der Europäer, wenn auch wiederum nur der Westeuropäer, deutlich wurde. Der Harmel-Report stützt die westliche Globalstrategie auf zwei Grundpfeiler: zum einen auf Verteidigungsfähigkeit und dadurch Abschreckung; und auf dieser Basis dann zum anderen auf Kooperation mit der Sowjetunion und mit Osteuropa auf wirtschaftlichem Gebiet, vor allem aber mit einer Perspektive auf Kooperation zur Begrenzung der Rüstungspolitik und schließlich auch mit der Hoffnung auf kulturelle Zusammenarbeit. Im Harmel-Beschluss wird zum ersten Mal das Schlüsselwort »Détente« in einem offiziellen Bündnis-Dokument verwendet.
Die dritte Phase trägt seitdem den Namen Détente- oder Entspannungsphase. Es war bisher die fruchtbarste Phase im Ost-West-Verhältnis. Ich erinnere an die Rüstungskontrollverträge, die zwischen Nixon und Breschnew abgeschlossen wurden, nämlich SALT -I- und ABM -Vertrag. Das waren im Vergleich zur Situation zehn Jahre zuvor unglaubliche Durchbrüche. Es folgten die Ostverträge der Bundesrepublik mit der Sowjetunion, mit Polen, mit der Tschechoslowakei und mit der DDR , das Viermächte-Abkommen über Berlin und schließlich der von Kardinal König mit Recht hervorgehobene Helsinki-Prozess. In den Vorbereitungen auf das Helsinki-Treffen des Jahres 1975 wurden zum ersten Male auch gewisse Handlungsspielräume der osteuropäischen Staaten erkennbar und von ihnen positiv genutzt. Außerdem haben die neutralen Staaten beim Zustandekommen der Helsinki-Schlussakte eine wichtige Rolle gespielt.
Die Entspannungsphase hat also fast allen europäischen Staaten Handlungsspielräume eröffnet, wie sie bis dahin nicht gegeben waren, und sie haben sie auch genutzt. Die Harmel-Doktrin, die europäischen Ursprungs war, wurde zur Grundlage für das ganze westliche Bündnis. Sie ist übrigens formal bis heute nicht widerrufen worden; sie wird von George Shultz gerade wiederentdeckt. Die Ostpolitik, die Helsinki-Akte, all dies waren europäische Erfindungen; sie gingen nicht von einer der beiden Großmächte aus. Die beiden Großmächte haben sich davon aber beeinflussen lassen. Auch in den osteuropäischen Staaten gab es einige Persönlichkeiten, die bewusst, wenn auch sehr vorsichtig, in dieser Phase eine gesamteuropäische Politik verfolgt haben.
Es hat während der Entspannungsphase auch schwere Rückschläge gegeben, zum Beispiel Prag 1968 , zum Beispiel die Breschnew-Doktrin. Diese haben aber die Entspannungsphase letztlich nicht beendet. Gleiches gilt auch für die mit sowjetischer Hilfe herbeigeführte schwere Niederlage der USA in Vietnam.
Während der Entspannungsphase gab es indes auch zwei folgenreiche Missverständnisse, die wesentlich zum Ende der Entspannung beigetragen haben. Einmal das Missverständnis auf amerikanischer Seite, insbesondere auf der rechten Seite des amerikanischen politischen Spektrums, Entspannung in Europa und zwischen Washington und Moskau impliziere zugleich eine Garantie für sowjetisches Wohlverhalten in den übrigen Teilen der Welt. Dies hatten die Sowjets nie versprochen. Wenn jemand auf westlicher Seite das unterstellt hat, so haben sich die Sowjets jedenfalls nicht danach gerichtet.
Auch auf russischer Seite gab es ein schwerwiegendes Missverständnis. Nachdem man sich über vielerlei Fragen in Helsinki, bei SALT , ABM , NPT und so weiter geeinigt hatte, nahm man im Kreml an, nunmehr könne die Sowjetunion sich in allen Bereichen, die von solchen Verträgen nicht abgedeckt waren, politische und militärische (und damit potentiell zugleich auch politische) Vorteile verschaffen. Der schwerste Fehler war in diesem Zusammenhang der Aufbau der SS - 20 -Raketen-Flotte. Es sind aber auch andere, zum Beispiel geostrategische schwere Fehler gemacht worden: etwa die Erlaubnis an Vietnam, mit Hilfe der Sowjets Kambodscha zu erobern; später der Einmarsch in Afghanistan; die Ausdehnung sowjetischen militärischen und politischen Einflusses auf gewisse Staaten Afrikas und Zentralamerikas und so weiter.
Das sowjetische Missverständnis, als ob man eine Carte blanche für all das hätte, was durch Verträge nicht ausgeschlossen war, hat wiederum in Amerika eine tiefe Enttäuschung über die ganze Entspannungsphase ausgelöst, die alsdann in den späten siebziger Jahren stückweise zusammenbrach. Carter brachte zwar noch einen SALT - II -Vertrag zustande, der aber nicht mehr in
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