Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
die weitere Zukunft; nur nachhaltige Einflussnahme durch eine verhandlungsfähige Gemeinschaft der westeuropäischen Staaten kann sicherstellen, dass neue Spielräume geschaffen und auch tatsächlich zur gesamteuropäischen Kooperation genutzt werden können.
8 . Mit einem Wort, es ist ein nachhaltiges Engagement sowohl unserer amerikanischen Verbündeten als auch des Westens insgesamt gegenüber dem Osten nötig. Ich betone: ein nachhaltiges Engagement. Ohne den Willen zum Engagement gegenüber dem Osten kann dies alles nicht von viel Hoffnung begleitet sein. Ohne den Willen zum Engagement mit dem Osten wird der Weg Europas zu sich selbst das Ziel verfehlen.
Europa muss jetzt handeln ( 1985 )
Zwei Wochen nach der Tagung des Bergedorfer Gesprächskreises in Rom legte Helmut Schmidt in der ZEIT vom 4 . Januar 1985 eine Agenda für die zweite Hälfte der achtziger Jahre vor, die helfen sollte, den Stillstand sowohl in der Entspannungspolitik als auch in der europäischen Integrationspolitik zu überwinden.
K urz nach seinem Amtsantritt fragte mich Jimmy Carter: »Können wir beide gemeinsam nicht die Mauer beseitigen?« Natürlich müssen Staatslenker in privater Unterhaltung durchaus auch umstürzende Fragestellungen miteinander erörtern; trotzdem war ich sehr verblüfft. »Auf welchem Wege?«, fragte ich zurück, Carters Antwort: »Ich dachte, Sie hätten doch wohl ein Rezept dafür.« Natürlich hatte ich es nicht.
Ich habe die Episode deshalb nicht vergessen, weil sie mich in drei Minuten erleben ließ, wie wenig mein Gegenüber von der Lage des gespaltenen Europas verstanden hatte. Ähnliche Eindrücke musste man gewinnen, als später vom »Reich des Bösen« und von der notwendigen und erreichbaren militärischen »Überlegenheit« des Westens wortreich und erschreckend die Rede war.
Allerdings: Zu Beginn der neuen Amtsperiode Ronald Reagans sieht 1985 die amerikanische Attitüde gegenüber Moskau deutlich realistischer aus als vor zwei oder drei Jahren – dank Außenminister George Shultz. Und sogar das Politbüro hat etwas hinzugelernt: Alle sowjetischen Anstrengungen, europäische und nordamerikanische Wähler zu beeinflussen, sind fehlgeschlagen; weder das deutsche noch das italienische noch das britische Parlament haben den Beginn der Raketenstationierungen verschoben. Diese Enttäuschung, zusammen mit der sicheren Erwartung der Wiederwahl Reagans und der Aussicht auf einen kostspieligen Rüstungswettlauf im Weltraum haben Andrej Gromyko schon im Oktober ins Weiße Haus geführt; ausführliche Gespräche mit Shultz werden nächste Woche in Genf folgen.
Zu Beginn des neuen Jahres erscheint also die Luft erheblich weniger eisenhaltig. Eine Beruhigung auch für uns Europäer! So weit, so gut. Aber es ist noch gar nicht gewiss – sofern es 1985 zu Rüstungsbegrenzungsverhandlungen kommt –, dass dabei auch die Sicherheitsinteressen der Völker und Staaten Westeuropas ausreichend berücksichtigt werden, von den Interessen der nichtsowjetischen Osteuropäer ganz zu schweigen. Zwar werden alle Europäer jedwede Begrenzung nuklear-strategischer Rüstung begrüßen. Aber wir wollen nicht bloß mehr Sicherheit für die beiden Großmächte voreinander, wir wollen auch mehr Sicherheit für uns selbst!
Wir haben auch ein vitales Interesse daran, dass die beiden strategischen Supermächte nicht stillschweigend die Welt in Interessensphären zwischen sich aufteilen und dadurch die Spaltung Europas (und Deutschlands) noch vertiefen. Deshalb wollen wir auch keine Abwertung des 1975 in Helsinki begonnenen, später in Madrid und heute in Stockholm fortgesetzten gesamteuropäischen Prozesses der Vertrauensbildung.
Nur wenn die Regierungen Westeuropas gemeinsam auftreten, können sie wirksam Einfluss darauf nehmen, dass eine neue Entspannungsphase zustande kommt; dass dabei nicht (wie schon zweimal, bei Salt II und bei der Ablehnung des Waldspaziergang-Kompromisses für die Mittelstreckenraketen) Europas Interessen unter den Tisch der Großen gekehrt werden; dass die neue Phase erneut Handlungsspielräume für die Staaten des europäischen Kontinents eröffnet.
Hier liegen 1985 die operativen Aufgaben für Mitterrand, Thatcher, Kohl, Craxi. Einzeln ist ihr Gewicht unzureichend, aber gemeinsam können sie vieles bewirken. Sie haben das Glück, in Lord Carrington als Generalsekretär des Atlantischen Bündnisses einen Mann von erwiesenen Fähigkeiten zur Verfügung zu haben. Die Gesamtstrategie des Westens muss
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