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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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neu definiert werden; schließlich sind seit dem Harmel-Report fast zwei Jahrzehnte vergangen, und die Präsidenten, Regierungschefs und Außenminister haben seit 1968 viele Male gewechselt. Die heutigen Amtsinhaber müssen wissen, wir brauchen zweierlei:
    Erstens nachhaltige Sicherheit vor der Sowjetunion durch Verteidigungsfähigkeit und damit Abschreckung plus beiderseitiger Begrenzung der Rüstung.
    Zweitens nachhaltiges Engagement zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion durch Rüstungsbegrenzung, durch wirtschaftlichen und kulturellen Austausch, durch die Bildung von Vertrauen – und alles dies zur Förderung der Rechte und der Wohlfahrt der Menschen in ganz Europa.
    Tatsächlich haben wir vor zehn Jahren mehr gesamteuropäische Zusammenarbeit gehabt als heute. Tatsächlich hatten wir auch – bis zum Beginn der tiefen weltwirtschaftlichen Strukturkrise vor fünf Jahren – mehr westeuropäische Integration als heute. Damals schufen wir das inzwischen überaus erfolgreiche gemeinsame Europäische Währungssystem EWS . Heute dagegen streiten sich die Staatslenker höchstpersönlich über das Recht, ihren Wein zwar zu verzuckern, ihr Bier aber rein zu halten. Welch ein Abstieg! »Euro-Sclerosis«, europäische Verkalkung, so sagt man mitleidig in den USA .
    Der gegenwärtige Stillstand der Europäischen Gemeinschaft kann nicht geleugnet werden. Aber das muss 1985 nicht so bleiben; denn es gibt in keinem größeren Lande nationale Wahlen, auf die Regierungen sonst meist ungebührliche Rücksicht nehmen. Und außerdem erweckt der Start des neuen EG -Kommissionspräsidenten Jacques Delors durchaus Hoffnungen. Man muss Delors helfen. Vor allem Frankreich sollte dies tun; jeder französische Staatspräsident besitzt eine höhere europäische Legitimation als fast jeder englische, italienische oder deutsche Staatsmann.
    Frankreich kann sein Ziel einer Weltrolle nur im Tandem mit den Deutschen verwirklichen. Deutschland hingegen kann sein besonderes Interesse an der Milderung der Auswirkungen der Spaltung nur verfolgen, wenn und soweit wir darin von Frankreich gestützt und legitimiert werden. Deshalb brauchen dann auch Engländer, Italiener, Holländer, Belgier, Dänen, Russen, Polen, Tschechen keine Sorgen vor einem angeblichen deutschen Revanchismus zu haben. Dies gilt gleicherweise auch dann, wenn über eine gemeinsame de-facto-Führung in der Europäischen Gemeinschaft hinaus auch die französischen und deutschen Verteidigungsanstrengungen eng zusammengeschlossen würden: Westeuropa (und zwangsläufig mit ihm auch das nicht-sowjetische Osteuropa) würde stärker; keiner in Europa brauchte zu befürchten, er würde dabei verlieren.
    Nach siebenjähriger enger Zusammenarbeit zwischen einem französischen Präsidenten und einem deutschen Bundeskanzler ist es ein erneuter Glücksfall, wenn sich heute Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl gut verstehen. Nach zwei verlorenen Jahren könnte ihnen 1985 eine Chance bieten, die nicht bald wiederkehren wird; denn 1986 , 1987 und 1988 wird es abwechselnd in beiden Ländern entscheidende Wahlen geben. Mitterrand und Kohl sollten das Jahr 1985 besonders in ökonomischer Hinsicht nutzen:
    Erstens geht es um den Eintritt in eine zweite Stufe des Europäischen Währungssystems – auch um so das währungspolitische Gewicht Europas zu vergrößern und auf die Budget- und Zinspolitik der Vereinigten Staaten Druck auszuüben. Die Arbeitslosigkeit Europas, die 1985 abermals steigen wird, kann ja nicht abnehmen, solange wesentliche Teile des europäischen Kapitals in die Vereinigten Staaten abfließen und deshalb in Europa Investitionstätigkeit und Beschäftigung weit zurückbleiben.
    Zweitens geht es darum, in Richtung auf einen wirklichen Gemeinsamen Markt voranzukommen – beispielsweise durch Entnationalisierung aller staatlichen Beschaffungen und Ausschreibungen, ob bei Eisenbahnen, Telegraphenverwaltungen oder Streitkräften (außer bei nuklearen Waffen), das heißt: Öffnung der staatlichen Ausschreibungen für alle Unternehmen aus denjenigen Staaten, die an diesem Schritt teilnehmen wollen. Es wird nämlich höchste Zeit, den Binnenmarkt der über dreihundert Millionen Westeuropäer endlich wirksam werden zu lassen.
    Beide Schritte lägen im Rahmen der Römischen Verträge. Sie verlangen kein ratifikationsbedürftiges Abkommen. Sie wiesen endlich wieder nach vorn. Viele der EG -Staaten würden sich an einem solchen Abkommen beteiligen, insbesondere dann, wenn sie positive

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