Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
muss man antworten: Die da drüben in den neuen Bundesländern, die haben nun seit 1933 oder 1934 – also fast sechzig Jahre lang – unter den Bedingungen von Diktaturen gelebt und gearbeitet, sie mussten sich anpassen und sie mussten sich durchschlängeln, so wie viele bei uns sich zwischen 1933 und 1945 auch durchschlängeln mussten. Aber gleichwohl haben sie besser gearbeitet und haben in der alten DDR bessere Ergebnisse erzielt als die Menschen in allen anderen kommunistischen Diktaturen während desselben Zeitraums. Die Menschen in der DDR haben deshalb durchaus auch Grund zu einem kleinen Stolz.
Eine dritte Attitüde westdeutscher Arroganz ist mir begegnet, wenn Menschen meinten, der Nationalstaat sei doch eigentlich etwas für das 19 . Jahrhundert gewesen, das sei doch eigentlich etwas Überholtes. Für unsere Zeit seien vielmehr andere Prinzipien geboten, wie zum Beispiel die »multikulturelle« oder die »multinationale« Gesellschaft. Die Vorgänge in Jugoslawien, im Baltikum, in der ganzen Sowjetunion zeigen jedoch, dass derjenige, der glaubt, die Menschen könnten auf ihre nationale Identität verzichten, sich irrt. Wahrscheinlich können nur einige Intellektuelle sich diesen Verzicht abfordern, die große Mehrheit der Menschen kann das nicht und will es auch keineswegs! Es gibt kein Volk in Europa, das auf seine nationale Identität verzichten wollte. Wer als Intellektueller oder als Wohlstandsbürger – oder Wohlstandskleinbürger – auf die Einheit der Nation verzichten will, der begibt sich außerhalb der geschichtlichen Kontinuität der europäischen Völker.
Meine vierte These zur westdeutschen Arroganz ist: Wer den Zusammenbruch von Absatz, Produktion und Beschäftigung in der ehemaligen DDR allein auf das Konto der sogenannten kommunistischen Misswirtschaft schreiben will, auch der irrt sich. Wenn 1988 noch fast neun Millionen Menschen in der DDR durch eigene Arbeit ihr Brot verdienen konnten und wenn dies 1992 nur noch fünf Millionen sein werden, so ist dieser Beschäftigungsverfall nicht allein Erich Honecker und seinen Genossen zur Last zu legen. Diese Entwicklung ist vielmehr weitgehend den Fehlern zuzurechnen, die wir seit dem Juli 1990 und seit dem 3 . Oktober 1990 in Bonn gemacht haben.
Die fünfte Attitüde westdeutscher Arroganz ist die Vorstellung, allein die Ossis müssten sich ändern. Richtig ist, sie müssen sich ändern. Aber wir im Westen, wir müssen uns auch ändern! Die Vorstellung, dass nur sie sich anzupassen hätten und alles gefälligst so zu machen haben, wie wir es bisher vierzig Jahre lang gewohnt sind, halte ich für oberflächlich, anmaßend und insgesamt abwegig. Nur wenn wir von beiden Seiten aufeinander zugehen, nur dann werden wir seelisch abermals ein Volk sein, wie das im November 1989 die Demonstranten in Leipzig gehofft und gerufen haben.
Natürlich ist es wahr, dass die Ostdeutschen vielerlei zu lernen haben, viel mehr als wir. Ich will aber hier vor einem westdeutschen Publikum nicht all die Punkte aufzählen, die ich normalerweise in den neuen Bundesländern vorzutragen pflege. Immerhin will ich gerne bekennen, dass ich mich unbändig darüber gefreut habe, wie Hansa Rostock während der ersten Spieltage der Fußball-Bundesliga-Saison erst einmal alle westdeutschen Mannschaften abgehängt hat. Da habe ich den Rostockern die Freude nachempfinden können; übrigens auch vielen anderen, die gar nicht in Rostock wohnen, sondern in Magdeburg oder in Halle.
Es gibt natürlich auch östliche Arroganz in Richtung Westen. Das zeigt aber alles nur: Wir bleiben ein gefährdetes Volk. Nicht, weil uns äußere Gefahr so sehr bedroht, die ist zurzeit wohl geringer als in den letzten Jahrzehnten. Sondern wegen unserer Neigung zu Aufgeregtheit, zu Überheblichkeit, zu Angst und zu Gefühlsüberschwang. Diese Neigungen haben uns im Laufe der letzten Generationen schon mehrfach in die Irre geführt. Ohne Ideale wären wir ganz gewiss arm. Aber unser Idealismus darf nicht umschlagen in Romantik, und Idealismus darf nicht umschlagen in Besserwisserei.
Ein Beispiel für Romantik: Manche meinen, wir Deutschen seien nunmehr besonders berufen zur Brückenfunktion zwischen Ost- und Westeuropa. Das macht unseren Nachbarn Angst; darüber hinaus würde es unsere Kräfte überfordern. Ein Beispiel für Besserwisserei: Die westdeutsche Haushalts- und Währungspolitik müsse angesehen werden als der bei weitem überragende Maßstab für die Vertiefung der Europäischen
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