Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
Vom Netzwerk:
konnten die Werke die Löhne nicht mehr bezahlen, die Leute mussten also entlassen werden. Der Trabant ist nur eines von vielen Beispielen. Sie selber kennen andere Beispiele. Dieser ruinöse Wettbewerb betraf sogar die landwirtschaftlichen Produkte, wie beispielsweise Obst und Tomaten. Weil die Holländer ihre Tomaten viel besser vermarkten konnten, nämlich appetitlicher anboten, deswegen kauften die Leute in Potsdam holländische Tomaten, obwohl ihr heimatliches Obst und Gemüse von hervorragender Qualität ist, nur war es nicht so gut vermarktet worden; das ist inzwischen besser geworden.
    Ich hoffe, dass die Polen, die Tschechen, die Slowaken, die Ungarn, die Esten, Letten und Litauer einige der Fehler deutlich erkennen, die wir in den letzten zwölf Monaten in der ehemaligen DDR gemacht haben, und dass sie daraus für sich die Lehren ziehen. Dass sie beispielsweise der Rückerstattung von enteigneten Fabriken oder enteigneten Firmen oder Gebäuden, also der Rückerstattung von Eigentum insgesamt an die Söhne oder die Schwiegersöhne oder die Enkel auf keinen Fall Vorrang geben dürfen.
    Vielmehr müssen die Grundstücke, Gebäude und Firmen in die Hände von Unternehmern gegeben werden, die investieren und modernisieren wollen, die wettbewerbsfähige Produkte herstellen wollen und die damit Arbeitsplätze und verdiente Löhne schaffen. Die Söhne und die Enkel können später in Geld entschädigt werden; sie haben so lange gewartet, jetzt kommt es auf drei, vier oder fünf Jahre auch nicht mehr an.
    Ich bin auch sicher, dass die Regierungen in den östlichen Staaten Mitteleuropas erkennen werden, dass es kein guter Weg ist, sämtliche bisher nominell dem Volk gehörenden, in Wirklichkeit aber der kommunistischen Bürokratie gehörenden Betriebe mit vielen Millionen Arbeitnehmern einer einzigen, aus dem Boden gestampften Holding-Gesellschaft – genannt Treuhandanstalt – zu übergeben und diese dann zu gleicher Zeit drei verschiedenen und teilweise sogar konfligierenden Zielsetzungen zu unterwerfen: nämlich Privatisierung, Sanierung und neuerdings auch noch sozial- und ausbildungspolitischen Zielen, ich nenne hier nur das Stichwort Beschäftigungsgesellschaften. Ich sehe voraus, dass die Treuhandanstalt und Frau Birgit Breuel bald von allen Seiten zum Prügelknaben gemacht werden wird. Ich sage heute schon, ich werde sie dann verteidigen; denn die gleichzeitige Erfüllung all dieser Aufgaben ist unmöglich. Die Osteuropäer sind gut beraten, diese Fehlkonstruktion nicht nachzuahmen. Allein die Belegschaften der Firmen, die der Treuhandanstalt unterstehen, sind so groß wie die Belegschaften der dreißig größten Konzerne der Vereinigten Staaten von Amerika zusammengerechnet. Es gibt niemanden auf der Welt, der solch einen riesigen Treuhandkonzern effizient führen kann.
    Unser größter Fehler aber war, dass wir am 3 . Oktober des vorigen Jahres, im Augenblick des großen Enthusiasmus und der fast maßlosen Freude, auf den großen Solidaritätsappell verzichtet haben und dass wir nicht gleichzeitig die notwendigen Opfer vom Steuern zahlenden Volk abverlangt haben. Ich habe im Sommer und im Herbst 1990 zehn oder zwölf öffentliche Vorträge in Städten der DDR gehalten. Ich habe dort nicht anders geredet als gegenwärtig, aber ich habe immer mit innerer Überzeugung hinzugefügt – und ich sehe eigentlich keinen Grund, warum ich heute, ein Jahr später, von meiner Überzeugung etwas abstreichen soll –: »Das dauert ungefähr zehn Jahre, aber Ihr werdet es schaffen!« Ich bin noch heute davon überzeugt. Vielleicht sollten wir aber sagen: »Wir werden es schaffen« und nicht: »Ihr werdet es schaffen«. Das setzt allerdings voraus, dass wir im Westen, in den alten Bundesländern, unsere Verantwortung erkennen.
     
    Gegenwärtig sehe ich die deutliche Gefahr, dass infolge westdeutscher Arroganz der seelische Graben sich zunächst noch vertieft. Ich habe Leute hier in Westdeutschland reden gehört: »Mir wird das alles zu teuer.« Diesen Leuten muss man antworten: Wenn der eigene Bruder, der zu Unrecht lange Jahre im Gefängnis gehalten worden ist, schließlich und unerwartet vor unserer Tür steht, dann bittet man ihn herein, dann teilt man brüderlich mit ihm und fragt nicht als Erstes, was es denn wohl kostet.
    Mir ist eine andere Attitüde westdeutscher Arroganz begegnet, nämlich wenn Leute sagen: »Die Ossis, die sollen doch erst mal richtig arbeiten, die wissen gar nicht, was Arbeit ist.« Denen

Weitere Kostenlose Bücher