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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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allerdings selbst verantwortlich oder mitverantwortlich gewesen waren.
    Dies war anders in dem fünften Fall des Niederganges eines Imperiums im 20 . Jahrhundert, ich spreche von dem Niedergang des British Empire. Die Briten haben ihr Kolonialreich nach 1918 langsam und schrittweise, mit viel Pragmatismus und britischem Common Sense aufgelöst. Sie haben die Dominions, die Kolonien, die Mandatsgebiete selbständig und souverän werden lassen und ein Commonwealth daraus geformt; heute reden sie vom United Kingdom. Aber auch der britische Pragmatismus hat nicht verhindern können, dass später Teile des ehemaligen British Empire in militärische Konflikte miteinander geraten sind, beispielsweise Indien und Pakistan.
     
    Jetzt sind wir ein sechstes Mal in unserem blutigen Jahrhundert dabei, den Verfall eines Großreiches mitzuerleben. Kein Krieg, keine Niederlage gegen einen äußeren Feind ist der Auslöser hierfür; sondern stattdessen handelt es sich um den inneren Zusammenbruch der Sowjetunion. Gleichwohl: Die Folgen für die Bürger und die bisherigen Teile des Stalinschen Großreiches, die Folgen für die Nachbarn und für die Welt insgesamt werden – so vermute ich – ebenso langwierige, ebenso gefährliche, weil konfliktschwangere Prozesse auslösen wie die vorhergenannten fünf Fälle des Machtverfalls von Großreichen.
    Ehe ich auf die epochale Bedeutung des Kollapses der bisherigen Sowjetunion näher eingehe, zunächst zwei Vorbemerkungen zur Themenstellung des heutigen Abends. Mir war aufgegeben worden, vom »neuen Europa« zu sprechen. Mich bringt dieser euphemistische Begriffsname in einige Schwierigkeiten. Welches Europa ist eigentlich gemeint? Zu meiner eigenen Lebenszeit – ich bin 1918 geboren – hat es vielerlei verschiedene Europa-Begriffe gegeben. Zum Beispiel das Europa vom Atlantik bis zum Ural; Charles de Gaulle hat diese Formel in den frühen sechziger Jahren noch einmal postuliert, die im 19 . Jahrhundert und bis 1945 – jedenfalls zu meiner Schulzeit – allgemein akzeptiert war. Aber nach 1945 hatten wir eigentlich doch verstanden, dass auch die Vereinigten Staaten von Amerika eine europäische Macht geworden waren. Auf der Helsinki-Konferenz im Jahre 1975 ( KSZE ) hatte auch die Sowjetunion unter Leonid Breschnew die Vereinigten Staaten von Amerika als europäische Macht akzeptiert, übrigens auch Kanada.
    Heute eignet sich der KSZE -Teilnehmerkreis, der damals in Helsinki und später in Paris drei Dutzend Staaten umfasste, inzwischen sind die drei baltischen Republiken hinzugekommen, kaum als ein Europa-Begriff. Das KSZE -Europa hat uns gerade eben im Falle Serbien/Kroatien ins Bewusstsein gerufen, dass dieses KSZE -Europa einstweilen keine Einheit ist, dass es keine Exekutive besitzt, dass praktisch jede Regierung eines Mitgliedsstaates ein Vetorecht hat, das nicht überwunden werden kann. Früher, nach dem letzten Krieg, hatte es einmal einen ökonomisch definierten Europa-Begriff gegeben, das war die OEEC , die Organization for European Economic Cooperation. Sie machte aber nur den Westen aus; inzwischen ist sie schon lange in die OECD übergegangen, welche heute auch Australien, Kanada und Japan umfasst.
    Ich muss hier nicht weiter begründen, warum die politisch und auch ökonomisch durchaus handlungsfähigen transnationalen Zusammenschlüsse, die für Europa eine gewisse Rolle spielen, wie die NATO oder wie der eben verstorbene Warschauer Pakt oder wie die Europäische Gemeinschaft oder wie der RGW (auch COMECON genannt) – jeder für sich genommen – keineswegs Europa bedeuten konnten und auch nicht bedeutet haben – auch wenn wir Bonner häufig von Europa geredet haben, wenn wir nach Straßburg oder nach Brüssel zu reisen pflegten.
    Die Frage ist also: Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Europa sprechen? Michail Gorbatschow hat vor einigen Jahren den – übrigens schon von Leonid Breschnew benutzten – Begriff vom gemeinsamen europäischen Haus verwendet, aber der sollte auch Sibirien bis zur Beringstraße einschließen. Gegenwärtig sind wir meilenweit entfernt von einem solchen gemeinsamen Haus. Deswegen mache ich den Vorschlag, dass wir es im Ergebnis bewusst bei der Unklarheit belassen, was eigentlich gemeint ist mit dem politischen Begriffsnamen: Europa.
    Wir wissen nicht, wie lange die Sowjetunion in ihren bisherigen äußeren Grenzen bestehen bleibt. In unsere europäischen Vorstellungen können wir schon mal die westlichen Republiken der Sowjetunion

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